Begleiterin durch Leben und Tod

Berufung Pflege. Kranke und Sterbende pflegen, das ist ein Dienst, so nah am Menschen, wie er nur sein kann. Ein Arbeitsfeld, das große Verantwortung bringt, das sehr befriedigend sein kann und auch unglaublich belastend.

Eva Maria Bachinger, Foto: Florian Feuchtner, Publiziert in Salzburger Nachrichten, 2020

Krankenpflegerin Ingrid Marth hat die pflegerische Leitung der Mobilen  Palliativteams der Caritas Socialis Wien. Eva Maria Bachinger sprach mit ihr über Mitleid und Distanz, Begleitung durchs Leben, Vorbereitung auf den Tod, teils unzumutbare Arbeitsbedingungen in Altenheimen und über ihre persönlichen Erlebnisse. 

Sie haben erwähnt, dass Sie früher eine sterbenskranke Bekannte nicht besucht haben und dass Ihnen das heute leidtut. Warum konnten Sie das damals nicht?

Ingrid Marth: Als ich von ihrer schweren Krankheit hörte, fragte ich mich, wie kann ich auf sie zugehen, mit meiner eigenen Betroffenheit und Ohnmacht, was soll ich denn sagen? Ich habe es so lange hinausgezögert, wissend, dass es genau so enden wird. Ich habe es nicht geschafft, ich konnte nicht. An ihrem Grab hat ihr Mann zu mir gesagt, sie hat so auf dich gewartet. Das ist mir sehr nahe gegangen und war ein Schlüsselerlebnis. Ich weiß, so werde ich es nie wieder machen. Ich kann dadurch aber nun andere Menschen ermutigen hinzugehen. Denn es gibt viele, die sagen, nein, ich will ihn oder sie nicht belästigen, ich will ihn oder sie so in Erinnerung halten, wie er oder sie immer war. Aber eigentlich geht es um sie selbst, sie wollen sich schützen. Auch trauernden Angehörigen will man ihre Ruhe lassen und sie nicht stören. Das tut ihnen aber sehr weh. 


Was also tun, was sagen?

Es ist vollkommen ausreichend, die eigene Betroffenheit zu äußern und zu sagen, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Viele von uns tun sich schwer, herausfordernde Situationen auszuhalten; wir tun und machen, das sehe ich auch bei Arbeitskollegen. Wenige setzen sich hin und halten eine Situation, wo man nichts mehr tun kann, aus. Das ist eine große Herausforderung, aber wenn man in einem Heilberuf arbeitet, muss man auch einmal sagen können: Ja, es ist schrecklich, was Sie erleben oder durchmachen, aber ich bin da und halte das mit Ihnen gemeinsam aus. 


Es gibt eine Diskrepanz: Da sind Menschen wie Sie, die sich täglich mit Leid, Sterben und Tod konfrontieren – und sonst wird der Tod sehr verdrängt. 

Man hält den Tod vermutlich nur auf der Bühne, im Film, in der sicheren Entfernung aus. Das hat vielleicht auch etwas mit unserem Lebenserhaltungstrieb zu tun. Doch wenn im eigenen Lebensumfeld ein Mensch stirbt, dann wird man plötzlich aufmerksam und weiß, das wird auch bei mir kommen. Doch ganz schnell geht das Gefühl wieder weg. Als mein Partner gestorben ist, waren viele Menschen für mich da, wenige Monate später haben nur noch ganz wenige nachgefragt, wie es mir geht. 


Hat Sie das verletzt?

Aufgrund meiner Berufserfahrung konnte ich das gut einordnen, doch andere Menschen tun sich möglicherweise schwerer damit. Deshalb ist es wichtig, dass es Menschen gibt, die ein paar Zeilen schreiben, die immer wieder nachfragen. Im Beruf brauche ich gute Selbstwahrnehmung, aber auch die Rückmeldung von meinen Kollegen. Es muss stets eine gute Möglichkeit geben, dass ich von einem Patienten auch wieder gut gehen kann. Natürlich ist die Arbeit intensiv, wenn ich etwa eine Stunde lang bei einem Patienten bin. Allerdings ist das Thema, worum sich die Gespräche drehen, oft das Leben und nicht so sehr der nahende Tod. Ich sage deshalb oft, ich bin Lebensbegleiterin, der Tod kommt später auch, aber vorher begleiten wir Menschen durchs Leben. Wenn ich mich von einem Patienten verabschiede, mach ich möglichst bewusst die Türe hinter mir zu. Ich gehe dann gerne ein Stück und lasse alles ausklingen, bis ich zum nächsten Patienten komme. Wenn es schwieriger ist, erzähle ich Kollegen davon oder nutze die Supervision. Oder ich mache zu Hause ein Ritual. Ich gehe duschen und wasche in meiner Vorstellung alles Belastende ab oder ich zünde eine Kerze an. 


Wie ist es für Sie, so nahe am Menschen zu sein, auch körperlich?

Das ist ein wichtiger Unterschied der Pflege zu anderen sozialen Berufen. Es macht einen Unterschied, wie ich jemanden wasche, wie ich auf Gerüche reagiere, auf Wunden. Es gibt Krebsarten, die das halbe Gesicht wegfressen. Das sind Entstellungen, die man sich nicht vorstellen kann. Die körperliche Nähe schafft auch viel Raum für Vertrauen und Offenheit. Ich finde es deshalb bedenklich, dass andere Professionen die Körperpflege der Krankenschwester abnehmen sollen. Das ist eine Grundkompetenz. Es braucht eine Einheit. Die zunehmende Spezialisierung ist bedenklich, weil so der Mensch und seine Bedürfnisse ja auch aufgesplittet werden. 


Was brauchen Pflegebedürftige, damit sie sich für Gerüche oder Entstellungen nicht schämen?

Es braucht Mitgefühl und Respekt. Menschen, die das nicht nur mit Worten, sondern auch im Umgang zeigen können. Wenn jemand sagt, das muss ja schrecklich für Sie sein, antworte ich, wie geht es Ihnen damit? Dann kommen wir vielleicht in ein Gespräch. Ich sage nicht, das ist alles in Ordnung für mich. Wenn es wirklich sehr übel riecht, frage ich, ob ich ein Räucherstäbchen anzünden oder mir Duftöl unter die Nase geben kann. Ich mache das ganz offen, denn es lässt sich nicht schönreden. Die Patienten wissen ja auch genau, was das auslösen kann. Hier ehrlich zu bleiben ist jedenfalls wichtig, aber auch eine Kunst. Aber es gibt nichts Schlimmeres für Betroffene, wenn sie merken, die macht mir was vor. Man braucht Mut und Demut, um ehrlich zu sein. Man kann alles sagen, wenn man wohlwollend und authentisch ist. 

Wie sehen Sie die Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte?

Kürzlich war ich in einem Heim, wo eine Nachtschwester für 27 Pflegebedürftige zuständig war. Das bringt die motiviertesten Menschen dazu, dass sie den Beruf wieder aufgeben. Eine Leitung, die Mitarbeiterinnen allein mit 27 Menschen lässt, handelt verantwortungslos. Wir wissen nicht erst seit heute, dass wir vor einem Problem stehen: Immer mehr Menschen werden älter, am liebsten wollen sie gesund älter werden, aber nicht bei allen ist das mög- lich. Wir haben einen Fachkräftemangel, weil der Beruf aus unterschiedlichen Gründen nicht attraktiv ist. Wir beuten andere Staaten aus, indem wir 24-Stunden-Betreuerinnen einsetzen, die in ihrem Land fehlen. Die Politik, die steuernde Verantwortung hat, schaut nur von Wahlperiode zu Wahlperiode. Die nötigen Maßnahmen sind unpopulär und kosten viel Geld, aber wir reden ja von unserer eigenen Zukunft. Man müsste nicht morgen handeln, sondern gestern. 

 
 

Ingrid Marth ist Dipl. Gesundheits- und Krankenpflege- rin, mit Zusatzausbildung Palliative Care und Bachelor in buddhistischer Philosophie. 

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