„Ich habe 30 Jahre lange geweint“ 

Tausende jüdische Eltern haben versucht, ihre Kinder vor den Nazis zu retten. Eines von ihnen war Ester Golan: Sie musste 1939 ihre Eltern in Berlin zurücklassen. Weder ihr hohes Alter (87) noch eine schwere Erkrankung halten sie heute davon ab, ihre Geschichte in Schulen zu erzählen. 

 

Elend, Terror, Entwurzelung – welche Narben hinterlassen diese Erfahrungen im Leben eines Kindes, das ihnen allein und schutzlos ausgesetzt ist? Ester Golan versucht, diese Fragen zu beantworten. Die 87-jährige Jüdin weiß, wovon sie spricht: Ihre Eltern konnten nur ihre Kinder vor den Nazis retten, sich selbst nicht.

Text: Eva Maria Bachinger, Publiziert in Salzburger Nachrichten, Salzburg 2011

Foto: SN / Deutsches Bundesarchiv, Albert Lichtblau, Universität Salzburg,

Mit 15 Jahren kamen sie über einen Kindertransport nach Schottland. Woran erinnern Sie sich noch? 

Da war ein großer Schlafsaal, es stand ein Bett neben dem anderen. Dazwischen war nicht einmal Platz, um den Rucksack abzustellen. Ich saß auf dem Bett, hatte den Rucksack umschlungen und wusste nicht, wo ich hingehörte. Es waren etwa 90 andere Kinder da. Zwei Wochen nach meiner Ankunft habe ich einen Brief von meiner Mutter bekommen. Sie schrieb, dass sie nicht nach Palästina ausreisen könnten. Da empfand ich ein großes Gefühl der Verlassenheit. Ich war ein Flüchtling, allein und entwurzelt. Mutterseelenallein. Dieses Gefühl hat viele Jahre angehalten, auch als ich längst in Israel war. 

Wie verlief die Flucht? 

Es war schwierig, überhaupt auf eine Transportliste zu kommen. Meine Mutter ist von einem Büro ins andere gelaufen. Zuerst ging es mit dem Zug nach Holland. Wir waren 15 Kinder mit einem Begleiter. Wir mussten bei der Grenze zur Passkontrolle aussteigen. Wer abgefertigt war, konnte wieder einsteigen. Plötzlich fuhr der Zug weg, ein Teil der Gruppe war noch draußen. Ich saß mit fünf anderen Mädchen im Zug. Wir hatten Angst. Meine Mutter hatte mir eine Telefonnummer von einem jüdischen Hilfsverein mitgegeben, wo ich anrufen sollte, gebe es Probleme. So haben uns holländische Frauen unter ihre Fittiche genommen, bis die anderen nachgekommen sind und wir das nächste Schiff nach England nehmen konnten. 

Wie war der Abschied von den Eltern? 

Meine Mutter war sehr traurig und hat geweint. Ein Bekannter ist gekommen und hat noch ein Familienfoto gemacht. Sie war sich wohl im Klaren darüber, dass der Abschied für immer ist. Ich hingegen hatte gehofft, dass es nur wie ein Sommerlager ist und wir uns in Palästina wiedersehen würden. Meine Eltern haben mich zum Bahnhof begleitet und meinen Rucksack getragen. Der Abschied war dann ganz kurz. 

Warum gelang den Eltern die Flucht nicht? 

Um in ein anderes Land zu kommen, musste man einen erwünschten Beruf haben oder Geld. Meine Eltern hatten weder das eine noch das andere und waren nicht mehr jung. Sie konnten nirgends hin.

 

Wie konnten sie in Nazideutschland leben? 

Meine Mutter hat elf Jahren unter den Nazis gelebt. Elf Jahre! Es war ein täglicher Kampf ums Überleben. Mein Vater musste Zwangsarbeit verrichten. Da ich wusste, wie schwer sie es hatten, habe ich nichts von meinen Sorgen geschrieben. Bis 1942 hat meine Mutter versucht, mir zu schreiben. Dann wurden meine Eltern deportiert, zuerst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz. Meine Mutter hatte ständig anderen geholfen. Zuerst meine Auswanderung, dann die nächste Tochter, mein Bruder war schon in Palästina, die Großmutter konnte nach Portugal zu Verwandten. Aus ihren Kindern wurden Briefe. Meine Mutter war eine Heldin, sie hat drei Kinder weggegeben, damit sie leben konnten. Wenn ich in Israel vor Soldaten spreche, sagen Offiziere, das sei Heldentum – nicht, jemanden zu erschießen. 

Wie hat Ihre jüngere Schwester alles verkraftet? 

Kaum, denn sie war damals erst neun. Ich war von zu Hause mehr geprägt, ich wusste, dass es von mir abhängt, was ich aus meinem Leben mache. Mir hat der Briefkontakt mit meiner Mutter sehr geholfen. Mit einer 15-Jährigen konnte sie anderes kommunizieren als mit einer Neunjährigen. Als keine Post mehr kam, bin ich zusammengebrochen. 

Was ist die schlimmste Folge für Kinder, wenn ihnen so etwas passiert? 

Es ist wichtig, das Leid von Heranwachsenden, denen Ähnliches geschieht, zu lindern. Aber es gibt im Grunde nichts Ähnliches wie die Schoah. Selbst die Tragödie in Ruanda ist im Ausmaß nicht mit der Schoah zu vergleichen. 

Aber es gibt auch derzeit viele Kinder im Krieg, jugendliche Flüchtlinge, die aus ihrem Umfeld herausgerissen werden. 

Sie müssen therapeutische Begleitung erhalten, damit sie den Weg zurück ins Leben finden. Aber in der Shoah ging es um massenhafte Ausrottung, nicht um Krieg. Wir haben den Deutschen nichts getan, trotzdem haben sie uns ausgerottet. 

Welche Folgen hatte der Umstand, dass so viele Traumatisierte ohne Behandlung blieben, auf die israelische Gesellschaft? 

Viel Sprachlosigkeit. Die zweite Generation wusste, dass den Eltern etwas passiert war, aber nicht genau, was. Die Enkel haben dann gefragt. Ich habe auch erst 30 Jahre danach gesprochen. Es dauerte lang, bis ich die rund 100 Briefe meiner Mutter gelesen und abgetippt hatte. Sie zu veröffentlichen war meine Art, meine Eltern zu ehren. Ich bin mit meinem Sohn nach Auschwitz gefahren, doch alle, mein Mann, mein Bruder, meine Schwester meinten nur, lass doch die Vergangenheit ruhen, was willst du dort? Ich habe dort meine Mutter „begraben“. Das war erst 1989! 50 Jahre, nachdem ich mein Elternhaus verlassen hatte! Ich habe 30 Jahre lang geweint, und das hat mir auch nicht geholfen. So habe ich begonnen, meine Geschichte mit anderen zu teilen. Viele sagten, du warst nicht im Lager, das ist ja nicht so schlimm. Dann frage ich immer, hast du eine Mutter, wäre es dir egal, was man ihr antut? Man kann Leid nicht in Zentimetern messen, kein Leid ist vergleichbar. 

Wie haben Sie erfahren, dass es kein Wiedersehen mit ihren Eltern geben wird? 

Unmittelbar nach dem Krieg über das Rote Kreuz. Ich wurde gerade selbst Mutter einer Tochter. Es hat mir an Lebensfreude gefehlt, um meinem Baby das zu geben, was ich sollte. Bei meinen Söhnen war es besser. Vom Tod meines Vaters habe ich durch meine Mutter erfahren. 

Wie erleben Sie Österreich?

Man begegnet mir mit Offenheit und Interesse. Mit Rechtsextremismus komme ich nicht in Kontakt. Denn wer kein Interesse an der Begegnung mit dem Fremden hat, lädt mich nicht ein. 

Fällt es Ihnen schwer, alles zu erzählen? 

Ja, ich spreche deshalb nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Kopf. Aber es freut mich, meine Geschichte zu erzählen, und zu zeigen, welch gute Menschen meine Eltern waren. Und wie überlebenswichtig der Staat Israel für mein Volk ist.

Kinder polnischer Juden aus dem Gebiet zwischen Deutschland und Polen bei Ihrer Ankunft mit der “Warschau” im Februar 1939 in London.

Bild: SN / Deutsches Bundesarchiv, Albert Lichtblau

 
 

Ester Golan wurde 1923 als Ursula Dobkowsky in Golgau, Schlesien geboren. Sie entkam dem Holocaust mit einem Kindertransport nach Wittingehame, Schottland. 1989 veröffentlichte sie die Briefe ihrer Mutter in dem Buch „Auf Wiedersehen in unserem Land“. Golan lebte in Haifa und zuletzt in Jerusalem und war als Vortragende zur Konferenz „Children and War. Past and Present“ der Universität Salzburg geladen. Ester Golan starb 2013 im Kreise ihrer großen Familie.

Previous
Previous

Ulrich Eichelmann

Next
Next

Ferzan und Ferhan Önder