Wandern
mit Kindern

 

Bergwandern mit Kindern muss nicht auf einen Alm-Spaziergang beschränkt sein. Es geht auch ohne maulende Kinder und genervten Eltern: Gewöhnt man die Kleinen langsam auf längeres Gehen, hält viele Pausen ein und ist grundsätzlich gemütlich unterwegs, ist vieles möglich. Zum Beispiel zwei Wochen lang über vier Pässe vom Engadin nach Trentino.

Text: Eva Maria Bachinger, Foto: Gerrit Staudinger
Engadin nach Trentino 2013

Publiziert in Salzburger Nachrichten

 

„Tausend Höhenmeter, ein sechsjähriges Kind? Nein, das geht nicht.“ Oder: „Mit Kindern kann man so was nicht mehr machen.“ Solche Sätze hört man oft, wenn es um Bergwandern mit Kindern geht. Doch Kinder haben Spaß, wenn oft Rast gehalten wird, wenn Murmeltiere pfeifen, Wasserfälle tosen und genügend Schokolade im Rucksack ist. Drei Erwachsene und vier Kinder haben sich im Engadin auf den Weg gemacht. Mattis (1) im Tragerucksack der Mama Marga, Milan (6) und Tamal (10) mit eigenem Rucksack und guten Schuhen. Die große Schwester Noa (15) trug genauso viel Gepäck wie die Erwachsenen: Schlafsack, Kleidung, Essen, Wasser, Windeln – und Badesachen. Denn das Ziel hieß ja Lago di Ledro in der Nähe vom Gardasee.

Familienvater Gerrit stellte eine Route zusammen, die auf den Karten nicht als roter Hauptwanderweg eingezeichnet ist, sondern er verband als graue Strichlinie gekennzeichnete Fußwege miteinander. Wir wollten möglichst abseits von hohen Gipfeln und Hütten unterwegs sein, weil wir uns dort mehr Einsamkeit erhofften. So war es dann auch: Nur selten sind uns andere Wanderer begegnet. Wandern mit Kindern bedeutet nicht nur Gipfel, Rekordzeiten und schwierige Klettereien im Sinn zu haben, sondern Muse und Langsamkeit. Details drängen sich in den Blick: eine Distel am Wegesrand, die bestaunt werden muss, ein Wasserfall mit schönem Becken, in dem man baden muss, ein Bussard, der sich über den Wald erhebt. Wandern mit Kindern bedeutet letztlich auch Solidarität zwischen den Generationen: auf andere warten, Rücksicht nehmen, gemeinsam Lösungen finden. Es muss nicht immer um Schnelligkeit und Höhe gehen, um Freude und Erfüllung zu finden.

 

Mattis (1) im Tragerucksack der Mama Marga.

 

Startpunkt unserer Wanderung war Schanf im Oberengadin in der Nähe von Samedan - wie fast alle Schweizer Orte gut mit dem Zug erreichbar. Mit Sack und Pack stiegen wir hinauf zum fast 2.700 m hohen Pass Chaschauna – der Grenzübergang nach Italien, wo die Tricolore im Wind flatterte. Im Rifugio di Cassana, eine ehemalige Kaserne, verbrachten wir die Nacht. Nach dem Abstieg nach Livigno war Busfahren angesagt - und zwar acht Kilometer nach Süden bis Ponte del Verde. Tags darauf ging es über den nächsten Bergpass: Passo di Val Mera, der uns wieder in die Schweiz zurückführte. Im Rifugio Saoseo konnten wir uns erholen, um morgens am See Saoseo vorbei den nächsten Pass zu erklimmen, Passo di Sacco, wo es das Biwak Strambini gibt. Doch bevor es wieder etliche Höhenmeter hinauf ging, konnten wir eine romantische Seeuferhochzeit bestaunen. Der Bräutigam sollte seine Braut im Schlauchboot über den See bringen. Doch das hat er sich wohl leichter vorgestellt: Er brauchte zum Gaudium aller sehr lange bis er mit den Rudern zurechtkam. Nach der Biwaknacht führte die Route bergab ins Val di Sacco bis nach Malghera. Bis hier her hatten wir Wetterglück, dann begann es zu regnen - natürlich nachdem wir Wäsche gewaschen und zum Trocknen aufgehängt hatten. Doch der abendliche Regenguss blieb der erste und einzige dieser Wanderung.

Nun folgte ein öder Abschnitt auf der Asphaltstrasse nach Fusino. Besonders Milan brauchte Überredungskunst und einen Rucksack-Transport. Ein italienisches Essen in einer Trattoria inmitten lärmender, fröhlicher Großfamilien entschädigte uns für all die Mühen. Nächste Station war das Städtchen Sondalo. Zum vierten Pass hinauf, nämlich Passo Dombastone erwartete uns ein steiler Aufstieg, vorerst auf eine Alm mit alten Steinhäusern. Eine italienische Familie, die dort oben immer den Sommer verbringt, nahm uns herzlich auf. Im Haus mit wuchtigem Holztisch und Herdofen servierten sie uns Kaffee und Kekse. Nun war auch wieder Zeit, an den Zweigen weiter zu schnitzen, die zu Wanderstöcken werden sollen - bis die Sonne immer mehr hinter den Schweizer Bergen verschwand. Auch eine Gute-Nacht-Geschichte gab es jeden Abend: Dank digitaler Lesegeräte müssen nicht mehr Bücher mitgeschleppt werden. Die Geschichte über Biene Maya sorgte stets für gespannte Aufmerksamkeit, bevor alle in einen tiefen Schlaf versanken. Als wir das letzte Stück zum Pass hinaufstiegen, trafen wir auf andere Wanderer und auf ein Rudel Gämse. Hinunter ins Val Grande, vorbei an Wochenendhäusern mit teuren Geländeautos davor, wurden wir immer wieder erstaunt beäugt. Der Weg führte uns in den Ort Vezza d ́Oglio, wo gerade Markt war. Viele Menschen drängten sich an den Ständen, die Kirchenglocken läuteten laut. Aus einem Café holten wir uns Cappuccino, am Markt kauften wir Brot, Käse und Obst – ein Festessen. Um das Adamello-Massiv zu umgehen, nahmen wir nun wieder den Bus nach Breno. Es war ein seltsames Gefühl, so rasch voranzukommen. Die kurvenreiche Bergstrasse zum Lago d ́Idro überwanden wir im Taxi. Am See-Campingplatz in Baitoni konnten wir ausgiebig duschen, Essen kochen und vor allem nach Herzenslust schwimmen.

Nach zwei Nächten packten wir für den Weg ins verwinkelte Bergdorf Bondone. Wir spürten, dass wir nicht mehr so hoch und weiter südlich unterwegs waren. Denn, obwohl wir im Wald gingen, war der steile Aufstieg an diesem Augusttag ein schweißtreibendes Unternehmen. Für den tapferen Milan wurde es anstrengend, doch Noa hatte eine Idee: Sie begann mit einem Satz, den ihr Bruder weiterspinnen musste, sodass mit der Zeit eine fantastische Geschichte entstand. Der Kleine war so begeistert, dass er darüber seine müden Waden vergaß. Auch Mattis brauchte immer wieder Pausen. Wenn er nicht schlief, wurde es ihm auf Dauer im Tragerucksack viel zu langweilig. Wir peilten das Rifugio Alpo an und erreichten eine Anhöhe, wo uns ein bellender Hund entgegenlief. Der Hausherr in dem Landhaus arbeitete gerade in seinem Feld voller Himbeerstauden. Er lud uns ein die Nacht hier zu verbringen, auch den Steinofen konnten wir zum Kochen benutzen. Aber nicht nur das: Die Kinder durften sogar im Swimmingpool baden.

Am nächsten Tag ging uns das Brot aus. Nur zwei, drei Häuser waren in der Nähe. So baten wir einen Mann, der gerade im Garten arbeitete, um Brot. Nein, Brot brauche er leider selbst, aber Mehl könne er uns geben. Das konnten wir auch bald verarbeiten, als wir wenig später zu einer Lichtung kamen, wo eine Familie in ihrem Waldhaus das Wochenende verbrachte. An einer Feuerstelle lud uns der dicke, fröhliche Familienvater zum Verweilen ein. Aus Mehl, Wasser und ein wenig Salz war der Brotteig schnell gezaubert, im Kochtopf über dem Feuer machten wir ein Fladenbrot nach dem anderen. Das frisch gebackene Brot schmeckte herrlich. Nach einem Mittagsschlaf, aus dem uns der Hausbesitzer mit seinen Arbeitern lachend mit „Basta, dormire, basta dormire“ riss, stiegen wir ins Val di Ledro ab. Kajakfahrer, die mit zwei Autos unterwegs waren, nahmen uns alle zu unserem Zielort Pieve di Ledro mit. Dort fragte ein älteres, deutsches Ehepaar Tamal, woher wir denn zu Fuß kommen. „Aus der Schweiz“, sagte der Junge stolz. „Was? Zu Fuß? Ihr seid ja von einem anderen Stern“, rief die Frau aus. Doch den türkis-blauen See vor Augen zu haben, war ein Hochgefühl wie es kein Urlaub mit allem Komfort bieten kann.

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