25 Jahre danach: Die Ruinen von Tschernobyl
Super-GAU. Die Ukraine leidet noch heute unter dem Reaktorunfall von Tschernobyl. Ein Lokalaugenschein.
Text: Eva Maria Bachinger Foto: Global 2000 Kiew, 2011
Publiziert in den Salzburger Nachrichten



Der Übersetzer Iwan Nemichev in Kharkov ist gut gelaunt. „Ich sehe schon, Sie strahlen. Waren Sie auch beim Reaktor? Ja, keine Sorge, es ist alles im Rahmen der Zulässigkeit“, sagt der ehemalige KGB-Agent in bestem Deutsch. Der Übersetzer der Kharkover Vizebürgermeisterin Switlana Gorbunowa-Ruban bittet ins oberste Stockwerk des Rathauses. Von dort hat man einen atemberaubenden Ausblick auf die St. Panteleimon-Kirche und auf das Kloster.
450 Kilometer weit von Tschernobyl entfernt ist sich die Vizebürgermeisterin sicher, dass Wasser und Lebensmittel in der Ukraine mittlerweile unbedenklich seien. In die Supermärkte würden nur geprüfte Produkte kommen, besonders die Lebensmittel für die Kinderheime und Krankenhäuser seien sicher. „Wir kontrollieren sehr streng. Wenn Sie allerdings Gemüse von einer Oma an der Straße kaufen, dann ist das wohl nicht empfehlenswert“, räumt Gorbunowa-Ruban ein. Allerdings: „Stundenlang vor dem Computer zu sitzen, ist auch keine gesunde Lebensweise. Chips und Cola sollten Kinder gar nicht bekommen. Es gibt Einflüsse durch Radioaktivität, aber es ist auch nicht klar, wie sich andere Einflüsse wie Abgase und Essen auswirken. Man kann das nicht trennen.“
Die Umweltschutzorganisation Greenpeace sieht das anders: Ein Expertenteam ist vor kurzem in die Region gereist und hat Lebensmittelproben aus Supermärkten und von lokalen Bauern untersucht. Der Grenzwert für Kinder beim radioaktiven Element Cäsium-137 sei teilweise um das 16-Fache überschritten worden. Vor allem Pilze, aber auch Karotten und Kartoffel seien nach wie vor stark kontaminiert. In den Jahren nach dem Reaktorunfall führte die ukrainische Regierung noch regelmäßige Analysen von Lebensmitteln in den betroffenen Gebieten durch und veröffentlichte die Daten. Seit 2009 würden keine Überprüfungen mehr durchgeführt, kritisieren die Umweltschützer.
Tausende Busse, Bagger, Hubschrauber, Lkw, die durch den Arbeitseinsatz nach der Katastrophe völlig verstrahlt wurden, hat man in 30 riesige Gräber rund um Tschernobyl verscharrt, alte Brennstäbe sind in Zwischenlagern verstaut. Gorbunowa-Ruban sorgt das nicht sonderlich: „Dafür ist unsere Regierung zuständig. Ich vertraue ihr. Die Experten sagen, die Lager sind sicher. Dann ist es wohl sicher.“ Für die an Leukämie erkrankten Kinder hat die Stadt ein Förderprogramm, aber: „Die Wirtschaftskrise hat selbstverständlich auch hier zugeschlagen. Wir müssen ein strenges Sparprogramm durchziehen“, erklärt die Politikerin. Die Einstellung der Bevölkerung zur Atomenergie habe sich nicht grundlegend geändert. „Wir kommen ohne Kernenergie nicht aus. Die Bevölkerung muss im Fernsehen sehen, dass unsere Reaktoren sicher sind, dann bleibt sie ruhig. Es gibt keinen Grund zur Besorgnis.“ Man bleibt derzeit auf Kurs: Der staatliche Energiekonzern Energoatom will in den nächsten 25 Jahren elf Atomkraftwerke bauen.
Derzeit sanieren Arbeiter die Straße nach Tschernobyl. Insgesamt arbeiten rund 4.000 Menschen in der verstrahlten Sperrzone: Sie tragen keine Atemschutzmasken, keine besondere Schutzkleidung. „Bei meinem ersten Besuch in der Sperrzone 1996 wurde alles total verharmlost. Sie überlegten, die Sperrzone zu verkleinern, wir durften in Pripyat eigentlich überall hin, nun ist vieles nicht mehr so zugänglich“, berichtet Christoph Otto, der seit 15 Jahren regelmäßig für das Global- 2000-Projekt „Tschernobyl-Kinder“ in die Ukraine reist. Ob die Behörden die Strahlenbelastung nun ernster nehmen oder alles gefährlich darstellen würden, könne er nicht sicher sagen. Für den Bau des neuen Sarkophags rund um den zerstörten Reaktor braucht die Ukraine noch 740 Millionen Euro. Zudem herrsche ein Tabu in der Ukraine: „Über sein Land darf man nicht schlecht reden.“ Der 25. Jahrestag wird in der Sperrzone mit einem Gedenkgottesdienst unter dem russisch-orthodoxen Patriarchen Kyrill I. begangen. Dann blickt man in die Zukunft: Im Besucherzentrum beim Reaktor hofft man auch auf mehr Besucher, auch durch die Fußball-Europameisterschaft, die 2012 in der Ukraine stattfinden wird.