Von Blaumeisen, Wendehälsen und enthusiastischen Vogelliebhabern
Welche Vegetationstypen sind für Vögel besonders wichtig? Welche Landschaftsformen braucht es, damit eine große Vielfalt herrscht?
Um solche Fragen beantworten zu können, werden Vögel beringt. Das geschieht unter anderem in einer Station nahe Hohenau an der March, in der seit mehr als 20 Jahren an die 300 Freiwillige ihre Wochenenden verbringen und bisher rund 80.000 Vögel und 120 Arten beringt haben.
Text: Eva Maria Bachinger Foto: Aleksandra Pawloff
Publiziert in Universum Magazin, 2016
Der Schilfrohrsänger hängt kopfüber, bleibt aber ganz ruhig, als Ornithologe Martin Rössler ihn vorsichtig aus dem Netz befreit. „Es gibt eine Regel: Man muss auf die richtige Netzseite gehen, wo zwischen dir und dem Bauch des Vogel kein Netz ist, also auf die Seite, woher der Vogel gekommen ist. Dann beginnt man ihn zu befreien“, erklärt er. „Ich sag immer, zuerst kommt die Fußmassage“, fügt er lachend an und befreit die kleinen Vogelfüße, dann die Flügel und den Kopf. Der Weg zu den Vogelfangnetzen führt durch üppige Vegetation, besonders der Schierling wuchert wild. Es riecht nach Mäusen, auch ein salziger Geruch liegt in der Luft, Vogelexkremente. Das Neuntöter-Weibchen, das als Nächstes befreit wird, steckt Rössler schnell in den kleinen Leinensack. „Sie können recht bissig sein, haben einen Hakenschnabel und einen zusätzlichen Zahn an der Schnabelseite. Dieser Vogel frisst große Käfer oder Mäuse sowie ausnahmsweise auch Kleinvögel wie Schwarzkehlchen zum Beispiel.“ Er holt einen vorbereiteten kleinen Zettel hervor, notiert mit Bleistift den Fundort und gibt den Zettel in den Sack dazu. „Notiert wird: Netz 14, in der dritten Höhenstufe des Netzes, der Vogel kommt aus Norden. Das ist ganz wichtig, weil wir unterschiedliche Standorte mit verschiedenen Vegetationstypen haben.“ Bei einem Hollerstrauch ist das „Hollernetz“, es gibt ein Netz im Schilfbestand, das sogenannte „Wiesennetz“, und schließlich das „Hausnetz“. Es liegt am nächsten zur Holzhütte, wo die eingefangenen Vögel hingebracht werden. Denn dort ist die Beringungsstation Hohenau bei den March-Thaya- Auen untergebracht.
„Es sind so kleine, zarte Tiere, aber sie sind sehr robust und manchmal sind sie sehr verstrickt.“
ALTBEWÄHRTE, VERLÄSSLICHE METHODE
Die Beringung wird vom Verein AURING getragen und vor allem von ehrenamtlichen Helfern von Juli bis Oktober an Wochenenden durchgeführt. Ankunft ist jeweils Donnerstagsabend, da es am Freitag bereits um vier Uhr früh losgeht. Dann wird bis Montagmittag gearbeitet. In der Hütte wird gekocht, gegessen und geschlafen. Oft schlagen die Mitarbeiter vor der Hütte auch ihre Zelte auf. Die Optimalbesetzung sind jeweils vier Leute: zwei, die die Vögel rasch aus den Fangnetzen holen, und zwei, die beringen. Pro Jahr arbeiten etwa 30 Leute ehrenamtlich mit – an die 300 verschiedene Personen in den letzten 20 Jahren.
Auch in Illmitz im Vogelparadies Seewinkel gab es jahrelang eine eigene Beringungsstation. Österreich hatte als einziges EU-Land sehr lange keine eigene Beringungszentrale, welche die wissenschaftliche Vogelberingung koordinierte. Seit letztem Jahr ist dieser Missstand aufgehoben: Nun setzt sich die Österreichische Vogelwarte (AOC) unter anderem für die Wiedereinrichtung einer Beringungsstation im Seewinkel ein. Die Vogelberingung ist trotz des zunehmenden Einsatzes von GPS-Sendern eine altbewährte, verlässliche Methode der Vogelkunde. Die Bedeutung von Landschaftsformen und Vegetationstypen für den Vogelschutz, Grundlagenforschung über einzelne Vogelarten – die Basisdaten dazu liefert die Vogelberingung. Die Beringungsstation in Hohenau ist ein Teil im weltweiten Netzwerk der Zugvogelforschung. Seit 1994 wurden an dieser Station fast 80.000 Vögel und mehr als 120 Arten beringt.
VIEL FINGERSPITZENGEFÜHL NÖTIG
Die Netze, in denen die Vögel landen, sind sogenannte Japannetze. Sie sind zweieinhalb Meter hoch, neun Meter lang und an jedem der vier Standorte reihen sich vier Netze aneinander. Die fliegenden Vögel nehmen sie meistens nicht wahr, fliegen hinein und bleiben darin hängen. Vor allem in den Morgenstunden ist die Anzahl hoch, bis zu 30 Vögel pro Stunde. Sie können sich dabei nicht verletzen, denn die Netze sind sehr weich, aber man braucht eine bestimmte Technik um die Vögel unverletzt befreien zu können. Das will gelernt sein. Martin Rössler ist sehr routiniert: Er macht das schon seit 1994. Die Ökologie-Studentin Barbara Kofler ist erst das zweite Jahr dabei, aber genauso begeistert bei der Sache. „Es sind so kleine, zarte Tiere, aber sie sind sehr robust und manchmal sind sie sehr verstrickt“, meint sie, als sie sich auf den Weg zum Schilfnetz macht. „Wir gehen jede Stunde nachschauen. Wenn es sehr heiß ist, auch halbstündlich, weil die Vögel schnell überhitzen können.“ Das Netz hängt, solange es Tageslicht gibt. Über Nacht werden sie zusammengeschoben und eingerollt. Barbara hat eine junge Blaumeise im Netz entdeckt. „Blaumeisen sind ziemlich aggressiv. Sie picken ins Nagelbett, rufen laut, schlagen mit den Flügeln. Größere Vögel sind oft recht ruhig und lassen alles über sich ergehen, aber Blaumeisen sind richtig rabiat. Sie hassen uns“, lacht Barbara. Die Meise ist zu Recht furios, denn sie ist kompliziert im Netz verwickelt. Es ist viel Fingerspitzengefühl nötig, um sie zu befreien.
Im Juli werden vor allem vor Ort lebende Vogelarten gefangen und beringt, dann immer mehr durchziehende Vögel. Der Vogelzug beginnt mit Ende der Brutzeit und nicht – wie viele glauben – erst im Herbst. Anfang August werden fast nur noch Jungvögel gefangen, da die Altvögel vor den Jungen abziehen. Sie sind nun frei und müssen nicht mehr 100 Mal am Tag zum Nest fliegen. So wandern sie dorthin, wo das Nahrungsangebot optimal ist. Bei den Zugvögeln gibt es absolute Rekordflieger. Berühmt ist die Pfuhlschnepfe: Sie meistert im Flug über den Pazifik von Alaska nach Neuseeland eine Strecke von 11.700 Kilometern, ohne zu fressen, zu trinken, eine Pause einzulegen oder zu schlafen. Oder der sibirische Brachvogel: Er schafft die Pazifiküberquerung zwischen Australien und China in drei bis fünf Flugtagen und legt dabei 6500 Kilometer zurück. In Hohenau wurde einmal ein Rohrsänger mit einem schwedischen Ring gefunden, der auch in Kenia war. „Das sind auch 6000 Kilometer Luftlinie, weder N’gulia in Kenia noch Hohenau sind der Endpunkt der Reise“, weiß Martin Rössler.
EIN ALU-RING ÜBER DAS BEINCHEN
„Das ist ein Jungvogel, drei null.“ Matthias Schmidt, Stationsleiter an diesem Wochenende, sitzt mit der jungen Helferin Kathi in der Holzhütte. Er öffnet einen Leinensack nach dem anderen, die von Barbara und Martin in die Hütte gebracht wurden. Die meisten Vögel sind in ihrem dunklen Versteck ruhig, nur manchmal zappelt einer oder zwitschert. Matthias nimmt einen Alu- Ring, stülpt ihn über das Vogelbein und macht ihn mit einer Zange fest. Die Ringe sind unterschiedlich groß, am Vogelbein sind sie frei beweglich. Jeder Ring ist mit einer Nummer versehen, die jeweils einem einzigen Vogel weltweit zugeordnet wird. Bei dem ersten Vogel handelt es sich um eine Sperbergrasmücke, eine relativ seltene Art, die in Österreich nur im Osten verbreitet ist. Bestimmt werden neben der Vogelart auch das Geschlecht und das Alter. Das Alter erkennt man nicht an der Größe – sobald Vögel das Nest verlassen haben, sind sie gleich groß, egal ob jung oder alt –, sondern am Zustand der Federn. Bei vielen Arten ist um diese Jahreszeit das Federkleid bei Altvögeln stärker abgenutzt als bei Jungvögeln. Dann werden auch Körpermaße und Konditions- und Fitnessmaße in Form von Fett und Muskeln aufgenommen. Matthias bläst sachte ins Federkleid. „Die Federn mausern, Code eins null eins“. Dann die „Schuhgröße“, 24,2 mm. „Da lachen die Kinder immer, die uns häufig besuchen“, erzählt Matthias. Erneut bläst er in das Federkleid, um die Muskeln und das Fett zu sehen. „Wenig Fett, 0,5, Muskel ist 1,5.“ Dann wird der kleine Vogel gewogen. Damit er ruhig bleibt, wird er verkehrt herum in einen Trichter gesteckt. „21,9 Gramm“. Kathi tippt alle Daten eifrig in den Laptop.
Die Beringung und Messung muss recht flott gehen, damit die Vögel nicht zu lange in den Stoffsäckchen ausharren müssen. Nach der Prozedur wird der Vogel durch ein Loch in der Holzwand in die ersehnte Freiheit entlassen. Es folgen heute noch Rohrammer, Mönchsgrasmücke, Sumpfrohrsänger, Blutspecht, Schilfrohrsänger, Baumpiper, Zilpzalp, Fitis, Wendehals. Letzerer ist besonders bemerkenswert: Bei Bedrohung wendet und dreht er den Hals hin und her und stellt die Kopffedern auf. Der Wendehals ahmt eine Schlange nach, um Feinde so in die Flucht zu schlagen. VERLOREN GEGANGENE FEUCHTFLÄCHEN Heuer scheint ein starkes Jahr zu sein, erzählt Matthias. Bis Mitte Juli wurden fast 600 Vögel beringt, normalerweise seien es bis zu diesem Zeitpunkt 400. Pro Jahr haben die Vogelkundler rund 5500 Vögel in ihren Händen. Da die March, wie fast alle Flüsse in Europa, so stark reguliert ist, gibt es kaum noch Überschwemmungsflächen und stehende Gewässer, die für Watvögel, die Schlick- und Schotterflächen benötigen, so bedeutsam sind. Die Beringungsstation liegt an den Absetzbecken der ehemaligen Zuckerfabrik Hohenau. Der Verein AURING versucht, diese künstlichen Gewässer als Brut- und Rastplätze für die Vögel zu erhalten. Es sind zwar „Second-hand-Gewässer“, wie die Vogelkundler sagen, aber sie sind ein Ersatz für die weitgehend verlorenen gegangenen Feuchtflächen der Auenlandschaften. Aber um die Gewässer zu erhalten, ist ein intensives Management – etwa gezielte Flutungen – nötig. Dies wird in Absprache mit den Grundeigentümern wie etwa der AGRANA und der Stiftung Fürst Liechtenstein durchgeführt. Da die Stiftung für die Außer-Nutzung-Stellung ihrer Flächen durch EU-Gelder entschädigt wird, muss sie als Auflage einen Managementplan erfüllen. Die einzelnen Maßnahmen werden jährlich mit dem Verein AURING ausverhandelt. Bereits 1992 begannen Martin Rössler und Thomas Zuna-Kratky mit den Gesprächen zur Sicherung der Flächen, die ursprünglich in Ackerland umgewandelt werden sollten. 1994 wurde die Beringungsstation gegründet, der Verein 1996. „Das Projekt ist abhängig von Leuten, die das aus Idealismus und ehrenamtlich tun. Das ist in Ordnung, aber letztlich können Naturschutzleistungen nicht nur ehrenamtlich geleistet werden. Das Blaukehlchen ist vom Aussterben bedroht, wir haben hier die größte Brutkolonie in Niederösterreich. Das ist nur deshalb möglich, weil wir das Gebiet erhalten. Sobald wir aufhören, ist das ein ganz normaler Acker. Die momentane Entwicklung ist leider in vielen Bereichen, dass wir uns zu einem Mäzenatentum entwickeln, in die Abhängigkeit von privaten Geldgebern, Stiftungen und Konzernen.“ Zumindest teilfinanziert wird die Vereinsarbeit durch Projekte, die vom Staat bzw. von der EU unterstützt werden.
VERSUCHE MIT MARKIERTEN GLASSCHEIBEN
Derzeit steht auf dem Gelände ein Versuchstunnel, mit dem seit 2004 die Vermeidung von Vogelaufprall an Glasflächen erforscht wird. Jährlich sterben Milliarden von Vögeln weltweit durch Kollisionen mit großflächigen Glasscheiben an Hochhäusern, Bus- und Eisenbahnstationen, Lärmschutzwänden, Privathäusern und Freizeiteinrichtungen. Nur Aufkleber mit Vogelsilhouetten anzubringen sei wirkungslos, so Projektleiter Martin. Das ist auch seit Jahren bekannt, dennoch werden die Aufkleber immer noch empfohlen und verkauft. In dem Versuchstunnel werden andere Varianten von Markierungen getestet. Wenn die Vögel in eine Startbox gesetzt werden, versuchen sie sofort, ans Ende des Tunnels zu kommen, weil sie das Licht suchen. Am Tunnelende entscheidet sich der Vogel zwischen zwei vermeintlichen Fluchtwegen: einer führt zu einer unmarkierten Glasscheibe, der andere zu einer markierten. Bevor es tatsächlich zu einer Kollision kommt, wird der Vogel von einem Netz aufgefangen und sofort in die Freiheit entlassen. Die Videoaufnahme seines Fluges wird später ausgewertet. Bei unwirksamen Markierungen fliegen die Vögel gleich häufig zum linken wie zum rechten Fenster, bei sehr wirksamen Markierungen wird nur die unmarkierte Seite angeflogen, zum Beispiel, wenn relativ schmale Streifen im Abstand von zehn Zentimetern angebracht werden, vor allem senkrecht verlaufende. Angewandt werden die Forschungsergebnisse beispielsweise von den ÖBB. Während Martin darüber spricht, entdeckt er einen Vogel am Himmel: „Da ist ein Bienenfresser da oben. Manchmal leuchtet es weiß auf, wenn er mit den Flügeln schlägt.“ Ferngläser werden gezückt und alle schauen gebannt, ob sie den farbenfrohen Vogel ausmachen können. Auf der Veranda des kleinen Holzhauses hängt eine Schiefertafel, wo mit Kreide notiert wird, welche Vögel heute schon beringt und welche Arten gesichtet wurden: Seeadler, Rotmilan, Habicht, Sperber bis zum seltenen Flussuferläufer sowie Flussregenpfeifer. Die Artenvielfalt gibt dem unermüdlichen Einsatz der Vogelkundler für die Tiere und ihre Lebensräume offensichtlich recht.
Bei den Vögeln, die in Leinensäckchen in die Hütte gebracht werden, werden Art, Geschlecht, Alter, Gewicht und Größe bestimmt. Dann bekommen sie einen nummerierten Aluminiumring ans Beinchen – und werden durch ein Loch in der Holzwand wieder in die Freiheit entlassen.