Verflixt und zugenäht

Als Schneider zu überleben war vor der Corona-Krise schon hart. Das Nähen von Masken hilft, die schlimmsten Einbrüche zu überbrücken

Text: Eva Maria Bachinger Foto: Karin Wasner
Publiziert in Falter, 2020

 
 

Irgendetwas müssen wir ja tun“, sagt Fahim Aho. Im Untergeschoß seines Schneiderateliers am Hohen Markt türmen sich die Stoffballen, gemustert, gestreift, gepunktet. Zwei Männer schneiden Stoffe zu und fertigen Gesichtsmasken aus Baumwollstoff. In der Auslage tragen die Schaufensterpuppen nicht mehr nur feinen Zwirn, sondern Masken. Kuverts stapeln sich auf dem Holzboden, fertig für den Versand. Die Produktion läuft, aber unter schwierigen Bedingungen: Die Vorgaben wie Abstand halten, Hände waschen, desinfizieren müssen eingehalten werden.
Harte Zeiten seien es, meint Aho, elegant im Maßanzug aus eigener Produktion, die Corona-Pandemie habe die Umsätze einbrechen lassen. Seit Ostern kann er zwar wieder offen halten, im Mai beschäftigt er nur einen Mitarbeiter, alle anderen neun Mitarbeiterinnen, vor allem Frauen aus der Slowakei, sind gekündigt oder in Kurzarbeit.

Aho, der als 19-Jähriger aus Syrien nach Österreich kam, ist seit 30 Jahren im Geschäft. Am Hohen Markt, im Donauzentrum, in der SCS und im Krankenhaus Nord hat er seine Läden. „Wir sind Schneider seit mehr als 100 Jahren. Mein Großvater war Schneider, mein Vater, mein Onkel, meine Geschwister, alle sind Schneider.“ Das Handwerk erlernt hat er zu Hause, in Österreich absolvierte er den Lehrabschluss. „Es ist kein einfacher Beruf, aber es ist ein Zukunftsberuf, weil Menschen immer Kleidung brauchen werden.“
Eines versteht er gar nicht: Warum tragen nicht alle Regierungsmitglieder Gesichtsmasken aus heimischer Produktion? „Sie sollten sich schämen, dass sie in dieser Notlage die Branche nicht unterstützen. Wir reden alle von Umwelt, und dann nehmen viele Einmalmasken aus China statt Stoffmasken, die gewaschen werden können.“
Nicht nur Gesichtmasken kommen fast nur noch aus Fernost und Osteuropa. In den letzten Jahrzehnten sind dadurch tausende Arbeitsplätze verschwunden. „Bis in die 1950er-Jahre hatte jeder seinen eigenen Schneider, das ist heute natürlich nicht mehr so“, sagt Patrizia Markus, Innungsmeisterin der Mode- und Bekleidungstechnik in der Wirtschaftskammer Wien. Derzeit gibt es 306 Maßschneidereien, 149 Designer und 240 Änderungsschneidereien in Österreich. In den Maßschneidereien und unter den Designern sind viele Frauen am Werk: Von 306 Betrieben haben 234 eine Chefin. „Es sind sehr viele Junge, die sich Nischen gesucht haben und meist als Ein- Personen-Unternehmen agieren“, erklärt Markus.
Eines fällt aber seit vielen Jahren auch auf: Viele Änderungsschneidereien werden von Männern geführt, von 240 Betrieben sind es 140. Meist sind es Männer mit Migrationshintergrund, häufig aus der Türkei, Syrien und Afghanistan. Der Integrationsexperte Kenan Güngör weiß, warum: „Obwohl das Nähen im Allgemeinen und in diesen Ländern im Besonderen als Frauenarbeit angesehen wird, waren Änderungsschneidereien seit jeher in Männerhand. Das verhält sich mit dem Beruf des Kochs ebenso. Solche im traditionellen Sinn ,unmännliche Arbeit‘ hat ihre Ausnahmen und wird in diesen Kontexten in keiner Weise als ,unmännlich‘ gesehen. Das hat zum einen damit zu tun, dass der Beruf des Kochs oder des Schneiders als ,Handwerk‘ verstanden wird und somit männlich kodiert ist.“ Historisch ausschlaggebend sei der Umstand, dass Frauen in diesen Ländern seltener außerhalb des Haushalts arbeiten durften. Zumal wenn Kundenkontakt und auch körperliche Nähe vorhanden ist.
Erleichtert sei der Zugang nun auch, weil das Gewerbe seit zwei Jahren frei ist, erklärt Innungsmeisterin Markus. Also jeder, der nähen kann – oder auch nicht –, kann sich als Änderungsschneider selbstständig machen. Das sieht man auch an der steigenden Anzahl: 2010 gab es 155 Änderungsschneidereien, nun um fast 100 mehr. Wenn Migranten nach Österreich kommen, ist es für sie oftmals einfacher, sich selbstständig zu machen, als in der Branche einen Job zu finden. Die grundsätzlich zunehmende Nachfrage ergebe sich durch nachhaltiges Denken, meint Markus: „Viele entsorgen ihre Kleidung nicht immer sofort, sondern lassen sie ändern oder reparieren.“ Eine Erklärung sei zudem, dass nicht mehr wie früher eine Nähmaschine zum Haushalt gehöre und viele schlichtweg nicht mehr wissen, wie man einen Knopf annäht oder ein Loch stopft. Oder sich dafür keine Zeit nehmen wollen.


Obwohl das Nähen als Frauenarbeit angesehen wird, waren Änderungsschneidereien seit jeher in Männerhand. Sie gelten als Handwerk.



Kemal Sinan Sehbaz bügelt sorgfältig ein Hemd. Auf seinem Schreibtisch liegen Reißverschlüsse in allen Farben, ein Zebrafell aus Kunstleder ziert die weiße Wand. Der 32-Jährige kommt aus Antakya. Sein Vater hat eine Schneiderei, wo er bereits als Schulkind geholfen hat. In dem kleinen Geschäft in der Steinbauergasse in Wien- Meidling gibt es schon seit 75 Jahren eine Putzerei, die Sehbaz weiterführt. Ansonsten kürzt er Kleider, ändert Hosen, passt Sakkos an. Falls Kunden nichts Bares dabeihaben, können sie bei ihm auch gleich Geld abheben: Außen befindet sich ein Bankomat. In Corona-Zeiten hat auch er auf die Produktion von Gesichtsmasken gesetzt – er bewirbt sie mit dem Slogan „Made in Meidling“. Am Anfang der Ausgangsbeschränkungen sei die Gasse wie leergefegt gewesen, da hat er auch die Putzerei geschlossen, obwohl er sie hätte offen halten können. „Nun kann ich mich eigentlich nicht beschweren, und wenn die Gastronomie wieder offen halten kann, wird es auch bei mir mehr Laufkundschaft geben. Im Umkreis von 200 Metern befinden sich immerhin sieben Cafés.“
Während Sehbaz spricht, wandert sein Smartphone von einer Hand zur anderen. Neben dem Bügelbrett liegt auf dem Tisch ein in Plastik gepacktes, hellblaues Hemd. Man kann bei ihm Maßhemden bestellen, erklärt er, und das geht so: Er nimmt die Maße, schickt sie mit den Stoff- und Farbwünschen der Kunden etwa an die Plattform „befeni“, die alles wiederum weiter nach Bangkok schickt, wo das Hemd genäht und wieder nach Österreich versendet wird. Kostenpunkt: läppische 39,90 Euro. Auf der Plastikfolie lächelt einem eine junge Frau auf einem Foto entgegen: „Ihr persönlicher Schneider: Khun Siachon (32), Single. Schneider bei befeni seit: 06/2018. Hobbys: Facebooking, Watching TV.“
Das soll wohl vermitteln, dass am anderen Ende der Welt ein echter Mensch sitzt, dem es gutgeht. Sehbaz sucht noch nach anderen Plattformen, wo man sich Kleider „maßanfertigen“ lassen kann. Da klickt man sich durch, soll es gewickelt oder hochtailliert sein, grün oder blau, mit tiefem oder rundem Ausschnitt, die Ärmellänge kurz oder lang? „Das machen derzeit alle“, lacht, er, „aber das passt natürlich nie, und dann kommen alle zu mir und brauchen eine Änderung.“



 
 
Keine Schneiderei, die nicht Masken in der Auslage präsentiert

Keine Schneiderei, die nicht Masken in der Auslage präsentiert

 
 
 
 
 
 

Die Schneidereien liefern sich angesichts der Konkurrenz aus dem Netz einen Preiskampf. „Sie graben sich gegenseitig den Markt ab“, so Innungsmeisterin Markus. „Denn wenn in Favoriten für die Kürzung der Hosenlänge nur drei Euro verrechnet werden, was in Betrieben in anderen Bezirken bis zu 15 Euro kostet, kann bald keiner mehr davon leben.“ Das ist derzeit sowieso schwierig, denn die Corona-Krise trifft die Sparte mit voller Wucht: „Wir haben durch die lange Schließung in der Branche Umsatzeinbrüche von 80 bis 100 Prozent“, so Patrizia Markus, die im siebenten Bezirk die Maßschneiderei Pollsiri führt.

Auch Fahim Aho nimmt diesen Trend wahr: Es würden öfters Kunden anfragen, die vermessen werden wollen, um online zu bestellen, was er stets ablehne. Oder es kommen junge Frauen, die als Brautjungfern alle dasselbe Kleid im Internet um 120 Euro bestellt haben. Jene, die „nach Maß“ angekreuzt haben, zahlen 140 Euro. Er schüttelt den Kopf: „Man kann doch nicht so naiv sein und glauben, dass eine Maßarbeit um einen Aufpreis von 20 Euro zu haben ist! Wenn der Schneider den Kunden nicht real trifft, wie soll das funktionieren?“ Wenn Kunden das online bestellte Kleidungsstück angepasst haben wollen, dann übernimmt Aho die Arbeit zwar, aber er verlangt ein wenig mehr als normal – „quasi als kleine Strafe“, fügt er schmunzelnd hinzu. „Damit sie es nicht nochmal machen.“

 
 
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