“Sansibar war mein Traum”

Niemals aufgeben. 


Juma Lukondya Sato hat sein erstes Fahrrad aus Einzelteilen selbst zusammengebaut. Jetzt ist der 34-jährige Tansanier drei Monate lang in Österreich und bereitet sich auf den Ötztal-Radmarathon vor. Eine Geschichte über Mut, Ausdauer und Neugier. 

Text: Eva Maria Bachinger, Foto: Lisi Niesner, Wien 2014

Publiziert in Salzburger Nachrichten

Das Löwenrudel war hungrig. „Vier Löwinnen sind hinter mir hergerannt.“ Juma Lukondya zeigt auf seine Unterschenkel, wo Narben von Kratzspuren noch zu sehen sind. Sein akrobatisches Geschick half: In Windeseile kletterte er auf eine dornige Akazie, dorthin konnten die Raubkatzen nicht folgen. Im Schatten warteten sie, doch auch Juma bewies Ausdauer. Trotz der Wunden blieb er so lange auf dem Baum bis die Löwen im Morgengrauen von dannen zogen. „Ich hatte keine Angst. Ich bin mit wilden Tieren aufgewachsen“, sagt er ruhig. Damals war Juma zwölf Jahre alt. Der Bub hatte sich von seinem Dorf Ng’wakitolyo im Nordwesten Tansanias auf den Weg nach Sansibar gemacht. Nun sitzt er im Wiener Café und trägt ein T-Shirt: „I love you, bicycle“ steht über dem Bild eines Fahrrads. 

Er trainiert für den Ötztal-Radmarathon am 31. August, bei dem 238 Kilometer und 5500 Höhenmeter zu bewältigen sind. Lange Strecken sind ihm nicht fremd, zwischen seinem Dorf und Sansibar liegen etwa 1000 Kilometer. Er erzählt von dieser Reise so selbstverständlich, als hätte es sich um einen Sonntagsspaziergang gehandelt. 

Bei der Frage nach seinen Geschwistern lacht er, weil er so viele hat, wohl schon 40. Der Vater, obwohl Christ, hat mehrere Ehefrauen. Bereits mit fünf hütete Juma hundert Ziegen und Kühe. Mit sieben arbeitete er in einer Goldmine. Handarbeit heißt dort: mit dem Hammer das Gold aus den Steinen schlagen. Der Lohn pro 24-Stunden-Schicht: 250 Tansania-Schilling, etwa zehn Cent. Nur der Sonntag war frei. Da hatte er Zeit, eine Akrobatengruppe zu bewundern, die im Dorf Station machte. Ihre Saltos hinterließen einen mächtigen Eindruck – so groß, dass er zu üben begann. Der Trainer war aus Sansibar und erkannte sein Talent. „Du bist sehr gut. Wenn du nach Sansibar gehst, kannst du auch ein Coach werden“. 

Also auf nach Sansibar! Mit ein paar Schilling in der Tasche wanderte Juma los. Weder wusste er, dass Sansibar eine Insel ist, noch wie weit entfernt diese Insel lag. 

„Ich dachte, ich geh’ mal los. Sansibar war mein Traum.“ In welche Richtung? „Ich bin einfach gegangen. Das ist nicht so wie hier. Dort verstellen kaum Häuser die Sicht.“ 

Als die Löwenattacke überstanden war, wagte er sich wie „ein bettelnder Hund“ in ein Dorf. Den Kindern zeigte er akrobatische Kunststücke, und wenn sie sie nicht nachmachen konnten, mussten sie ihm Essen bringen. So war es abgemacht – bis die Eltern dahinterkamen und ihn in einen Schuppen sperrten. Noch bevor die Polizei auftauchte, konnte Juma fliehen. Der weitere Weg blieb abenteuerlich. 

Viele Stunden folgte er Bahngleisen, bis er zu einer Viehverladestation kam. Da der Transport nach Dar-es-Salaam gehen sollte, bat er den Viehhüter, ob er mitkommen könne. Tagelang ging es gemächlich durch die Steppe. Für Aufregung sorgten nur die Kontrollen. Juma musste sich zwischen den Rindern verbergen, wenn Polizisten auf der Suche nach Waffen oder Elfenbein waren. 

Vor Dar-es-Salaam sprang er aus dem fahrenden Zug, um nicht doch noch entdeckt zu werden. Als er sich weiter nach dem Weg erkundigen wollte, merkte er, dass die Menschen seine Sprache Kisukuma nicht verstanden. Kisuaheli hatte er nie gelernt, geschweige denn Englisch, da er nie eine Schule von innen gesehen hatte. Schließlich fand er jemanden, der ihm erklären konnte, dass er bei den Fischern an- heuern musste, wollte er über das Meer nach Sansibar. Jumas Aufgabe bei der Überfahrt war endloses Schöpfen, weil immer wieder Wasser in das Dau (arabisches Holzsegelboot) eindrang. Auf der Insel traf er einen Bauern, er hieß Ameri und konnte seine Hilfe gut gebrauchen. Juma war angekommen – bei Ameris Großfamilie im Dorf Bungi. Sie ernteten Orangen, Kokosnüsse und Kassava und verkauften die Früchte an der Straße. Flink wie er ist, schaffte Juma 75 Kokospalmen pro Tag. Zur Feldarbeit kam er mit seinem selbst zusammengebauten Rad, und mit den anderen Kindern lernte er schreiben, lesen, Geld zählen. 

Als zum ersten Mal ein Radrennen auf der Insel stattfand, wurde er von Freunden angespornt, doch mitzumachen. Mit Erfolg. Juma war der Schnellste von allen, jedes Jahr. Auch beim Triathlon, trotz Hindernissen. Weil er nicht schwimmen konnte, lief er durch das vor Sansibar seichte Wasser. An die Seeigel hatte er nicht gedacht. Trotz geschwollener Füße absolvierte er die Lauf- und Radstrecke. Der Kilimandscharo-Marathon war ebenfalls kein Problem. Den Vulkan besteigen, mit dem Rad off-road umkreisen und noch einen Marathon anhängen, Sieger am Ende: „Kili-Man“ Juma. 

Für die 700 US-Dollar Preisgeld kaufte er mehrere gebrauchte Räder, um einen Verleih in Sansibar aufzubauen. Doch es sei schon ein wenig langweilig gewesen, immer zu gewinnen, erzählt er. 

Zum Glück lernte er Gaffi Garhofer kennen. Die Wienerin kam 2003 nach Sansibar. Sie hat sich dort wohlgefühlt und beschlossen, im Dorf Jambiani ein Haus zu bauen. Die passionierte Radfahrerin schwang sich regelmäßig auf ihr Mountainbike und sauste in die Hauptstadt, um Baumaterial zu bestellen. Touristen, zumal auch noch radfahrende, waren auffällig. 

Juma, der am Obststand an der Straße stand, sah sie immer nur, wie sie schnell vorbeifuhr. Einmal hielt sie an. „Bist du eine Rennfahrerin?“, fragte Juma. Sie vereinbarten ein Training am kühlen Morgen, Treff- punkt vier Uhr. 20 Kilometer fuhren sie off- road, nur in Dörfern bremsten sie, um keine Hühner zu überfahren. 

Der Beginn einer Freundschaft, die Juma ermöglichte, nach Ö̈sterreich zu kommen, um Rennen zu fahren, Gaffi erklärte ihm das optimale Training, verhalf ihm zu Englisch-Stunden und zum Visum. Die Mechanikerin überließ ihm auch ihr Rad. 

Es gibt noch eine Anekdote, die er gern erzählt. Vor fünf Jahren wurde Juma zu einem Radrennen nach Südafrika eingeladen. Doch eine Woche vor dem Abflug hatte er noch immer keinen Reisepass. Es war offensichtlich: die Beamten wollten etwas Kleingeld. Da erinnerte sich Juma an die Frau des Präsidenten, Mama Shadya Karume, die bei einer Siegerehrung zu ihm sagte: „Wann Sie etwas brauchen, melden Sie sich.“ Er ging er zu ihr ins Büro, wurde auch vorgelassen. Karume zögerte nicht lange, bat Juma in ihren Dienstwagen und ließ sich zum Passamt chauffieren: „Wer will hier Mr. Lukondya keinen Pass geben?“ Es dauerte fünf Minuten, bis er das Dokument hatte. 

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