
Schau mir in die Augen, Kleines!
Per Makrofotografie kann man den Geheimnissen im Leben von Insekten ein Stück näher kommen. Den Fotografen Rudi Ritt bedrückt dabei aber, dass Fotos oft die letzten Zeugnisse einer Art sind – weil viele Arten derzeit aussterben.
Text: Eva Maria Bachinger Foto: Rudi Ritt Wien, 2014
Publiziert in Universum Magazin




“Insekten sind zahlenmäßig die häufigsten Lebewesen der Erde.”
Hier tut sich ein Universum auf. Aber es ist kein unendlich großes, sondern ein winzig kleines. Die Makrofotografie führt in eine Welt der kleinen Größe – und der Fotograf Rudi Ritt hat sich ihr mit Leib und Seele verschrieben. Mit seinem Fotoapparat ist er meistens in freier Natur auf der Suche nach Lebewesen, die unauffällig und unscheinbar unsere Erde bevölkern. Für die meisten Laien sind ihre Namen, ihr Aussehen und ihre Schönheit unbekannt. Durch diese Art der Fotografie eröffnet sich aber für alle eine Welt der Pracht, der zarten Muster und überraschenden Details. Die Makrofotografie ist das Gegenteil der Weitwinkelfotografie, die einen Überblick bieten will. Aufnahmen der winzigen Welt erschließen zwar auch Zusammenhänge, aber solche, die wir im Alltag nicht sehen. Oder nicht sehen wollen. Die Makrofotografie ist anspruchsvoll und verlangt vom Fotografen Geduld und Achtsamkeit, um die kleinen Tiere um uns herum überhaupt entdecken zu können. Sie ist insofern auch ein ziemlicher Kontrast zur atemlosen Presse- und Werbefotografie, aber auch das Gegenteil der digitalen Fast-Selfie-Unkultur.
Bei der Makrofotografie versuchen Fotografen das Objekt nahezu 1:1 abzubilden – oder zumindest 1:10. Das menschliche Auge kann bei extremer Nähe nicht mehr scharf sehen. Geht man also an ein kleines Insekt möglichst nahe heran, erkennt man nicht mehr alle wundersamen Details - sofern das Insekt nicht überhaupt gleich die Flucht ergreift. Was dem menschlichen Auge entgeht, macht die Nahfotografie weitgehend wett, oftmals auch mit Hilfe von speziellen Objektiven, Zwischenringe und Nahlinsen. Aber auch die Technik hat im Nahbereich ihre Grenzen: Je mehr man in den Makrobereich geht, desto geringer wird die Schärfentiefe, also der Bereich der räumlichen Tiefe eines Bildes, der scharf dargestellt wird. Extrem wird das bei mikroskopischen Aufnahmen.
Da die Schärfentiefe auch von der Wellenlänge des Lichtes abhängt, ist die Elektronenmikroskopie, die mit sehr kurzwelligen Strahlen arbeitet, eine Möglichkeit. Allerdings ist das sehr aufwändig. Einfacher geht es mit „stacking“ oder auf Deutsch: stapeln. Ein Objekt wird mehrmals hintereinander unter gleichen Bedingungen fotografiert, es wird jeweils nur die Schärfe-Ebene verschoben. Aus den vielen Bildern wird dann mit Hilfe eines Computerprogramms ein Summenbild errechnet. Das Bild ist dann sozusagen „von vorne bis hinten“ scharf. Das Problem dabei ist, dass sich das Objekt während dieser vielen Aufnahmen nicht bewegen darf und die Schärfeebene exakt in einer Achse verstellt werden muss. Trotzdem gelingen Aufnahmen von lebendigen Tieren, wie jenes Foto einer Tapezierspinne, von der Ritt 50 Aufnahmen gemacht hat und diese Aufnahmen übereinander „gestapelt“ hat.
Allerlei Insekten, Spinnen, Schmetterlinge und Nachtfalter fotografiert Ritt seit Jahren. Angesichts seiner Fotos meint man oft, an ein exotisches Getier irgendwo in den fernen Tropen geraten zu sein, aber die allermeisten Aufnahmen hat Ritt in Deutschland und Österreich gemacht. Ritt erzählt, dass er sich bereits als Kind für Kleingetier interessiert und tote Insekten gesammelt hat. Schließlich begann er sie auch zu fotografieren. Nun streift er vor allem an der Donau in der Nähe von Passau entlang, wo in einem Naturschutzgebiet noch viele Arten zu finden sind. Er stöbert die Tiere auf, aber ohne einen Fluchtreflex auszulösen. Das verlangt, dass er sich langsam und leise heranpirscht. Nachtfalter lockt er mit Lichtquellen an, um sie fotografieren zu können. Mittlerweile verbringt er einen Großteil seiner Zeit mit dieser Art der Fotografie. Unter der Linse eines Makrofotografen können selbst Tiere, die bei vielen Menschen Angst und Abwehr auslösen, wie etwa Spinnen, zu Wesen werden, die wunderschöne Muster und Linien erkennen lassen. Oder Respekt einflössen. Ritt nennt erneut die Tapezierspinne im Donautal, eine Verwandte der Vogelspinne, als Beispiel: Sie hat imposante Giftzähne und entsprechend lange Hauer. „Wenn man das von nah sieht, ist man beeindruckt.“
Insekten sind zahlenmäßig die häufigsten Lebewesen der Erde. Man schätzt, dass es etwa eine Million verschiedene Arten gibt. 60 Prozent aller beschriebenen Tierarten sind Insekten. „Insekten sind auch die robustesten. Wenn es ganz dick kommt, sind die Menschen relativ schnell verschwunden, die Insekten nicht. Sie werden uns vermutlich überleben“, meint Ritt. Da er schon jahrelang fotografiert, hat er aber trotzdem eine beunruhigende Entwicklung beobachten können: Es verkleinern sich nicht nur Populationen einer Art, sondern es sterben ganze Arten aus, ziemlich unbeachtet und lautlos. „Es geht gnadenlos bergab. Das tut mir furchtbar weh. Bei manchen Arten geht es nicht so schnell, bei anderen rasant wie zum Beispiel bei wiesenbewohnenden Tagfaltern“, so Ritt. Das Sterben ist auch in Naturschutzgebieten zu beobachten, weil sie oft zu klein sind, damit sich eine Population ausreichend fortpflanzen kann. Und weil Umweltgifte nicht vor Schutzgebieten Halt machen. Für viele Arten, die noch da sind, sei es bereits zu spät: „Was man jetzt noch zu Gesicht bekommt, ist bei vielen Arten nur die Hand, die noch aus dem Grab winkt.“
Ritt hat bei einer vergleichenden Untersuchung des Bestands im Passauer Raum seit 150 Jahren mitgearbeitet: „Es schaut düster aus. Mehr als die Hälfte der Arten ist schlicht und ergreifend einfach weg.“ Auch der Naturschutzbund bestätigt, dass der Rückgang von Fluginsekten dramatische Ausmaße angenommen habe. Am stärksten betroffen sind Schmetterlinge und Nachtfalter. Diese Entwicklungen bekommen nur jene mit, die verschiedene Arten kennen. Allerdings kann auch der Laie Veränderungen feststellen: „Wir haben als Kinder immer die Kühlergrills von Autos nach Schmetterlingen abgesucht. Da waren so viele Insekten in der Luft, dass die Kühler im Sommer nach 100 Kilometern Fahrt voller Insekten waren. Das passiert heute nicht mehr.“ Man muss auch nicht mehr regelmäßig anhalten, um die Windschutzscheibe von allerlei Getier zu reinigen. Der Rückgang von Insekten verändert die Nahrungskette. Viele Vögel ernähren sich direkt von ihnen oder den Raupen und Eiern. So nimmt auch die Artenvielfalt bei Vögeln ab. Dass davon letztlich auch die Ernährung des Menschen bedroht wird, zeigt sich am deutlichsten an der Honigbiene. Die Ursachen dieser Trends sind in erster Linie die Intensivierung der Landwirtschaft durch Stickstoff-Düngung, die nur noch ertragreiche Gräser hervorbringt sowie die Gleichförmigkeit der Kulturlandschaft. Der Einsatz von Pestiziden macht nicht nur Insekten den Garaus, die die Kulturpflanzen schädigen, sondern auch anderen Lebewesen.
„Schuld daran sind aber nicht nur die Bauern, sondern wir alle, weil wir die Natur nicht genügend wertschätzen. Wir geben zu wenig Geld für den Naturschutz aus, zu wenig Geld für umweltverträglich produzierte Lebensmittel, obwohl wir alle die Wahl hätten: beim Einkauf und bei politischen Wahlen“, meint Ritt. Er sieht seine Arbeit angesichts dessen auch als Arbeit für die Nachwelt: „Es ist makaber, aber ich kann mit einem Foto diese Tiere wenigstens dokumentieren. Doch so schön die Fotos sind und so gerne ich sie anschaue, lieber wäre es mir, wenn es diesen Tieren weiterhin gut geht. Ein Foto wird so zu einem traurigen Abklatsch.“ Er hilft deshalb regelmäßig bei Bestandsaufnahmen mit, um die Bedeutung von bestimmten Gebieten für einzelne Arten zu untermauern. In der Hoffnung, dass sie unter Schutz gestellt werden.
Zum Artensterben gibt es auch einen Rückgang von Experten. „Da stehen einige auf der roten Liste“, meint er. Es gebe eine Reihe von Käfern, die noch gar nicht beschrieben sind, weil sich kein Fachmann dafür finde. „So harren einige Exponate in Insektensammlungen, die irgendjemand mal gesammelt hat, aber keiner kann sie bestimmen.“ Die Gründe für diesen Rückgang sieht er darin, dass sich immer weniger Laien, aber vor allem immer weniger junge Forscher für solche Spezialgebiete interessieren. Ein guter Freund Ritts ist 88 Jahre alt und ein weltweit anerkannter Spezialist für Marienkäfer. „Er hat zwar viele Veröffentlichungen vorzuweisen, aber das ist nur ein kleiner Ausschnitt seines Wissens. Das wird er wohl mit ins Grab nehmen“. Es fehlen die Jungen, die nach dem Wissen der Alten fragen. Es gebe immer weniger Biologen, weil das Interesse an der Natur abhanden komme. „Natur driftet ins Virtuelle ab. Es ist einfach, sich vor den Bildschirm zu setzen und Natur zu konsumieren. Aber in die Natur rauszugehen, etwas auf eigene Faust zu erkunden, ist eine ganz andere Erfahrung.“ Der Zugang zur Natur wird Kindern sicher erschwert: Eltern lassen Kinder kaum noch unbeaufsichtigt. Nationalparks versuchen mit Bildungsprogrammen für Kinder und Jugendliche dagegen zu halten. Vermehrt gebe es Kinder, die noch nie in einem Wald waren oder sich schmutzig machen dürfen, berichtet Erika Dorn, Sprecherin vom Nationalpark Donau-Auen. Eine weitere Ursache sieht Ritt in den vielen Verboten. „Wir haben als Kinder Schmetterlinge gesammelt, Fische und Vögel gefangen. Jetzt ist es so, dass man fast nichts mehr machen darf: Man darf keine Fische fangen, man darf Vögel nicht beunruhigen, man darf manche Naturschutzgebiete nicht betreten. Auch ich brauche eine Genehmigung der zuständigen Behörden. Es gibt genaue Vorschriften, was ich darf, wo ich was darf, ich muss darüber berichten, was ich getan habe. Das hält viele davon ab, doch im Grunde würde das die Natur am wenigsten schädigen.“ Wenn ein Bauer seine Wiese umackere und Mais anpflanzt, düngt und Pestizide spritzt, dann habe er innerhalb von zwei Tagen fünf bis sechs Schmetterlingsarten auf diesen Flächen vernichtet. Das sei offenbar in Ordnung, ärgert sich Ritt. „Aber wenn einer auf eine Wiese geht und einen Schmetterling fängt, ist das verboten.“ Ritt will dabei nicht missverstanden werden: „Ich bin nicht dafür, dass Jeder Schmetterlinge fangen soll, wie es ihm passt. Aber es muss Möglichkeiten geben, Kinder und Jugendliche heranzuführen.“ Denn: Was man nicht kennt, schätzt man nicht und vermisst man auch nicht, wenn es nicht mehr da ist – und nur mehr auf einem Foto zu bewundern ist.