WILDE TIERE
Geier, Wolf, Luchs und Bär sind nicht überall willkommen.
Text: Eva Maria Bachinger, Foto: Karin Wasner
Publiziert in Salzburger Nachrichten, 2013, Salzburg
Wildtiere wollen nach Österreich zurückkehren – aber nicht immer lässt man sie. Der Bartgeier ist wieder in den Hohen Tauern heimisch, aber Bleimunition gefährdet den Aasfresser. Die Beutegreifer Wolf und Bär kommen vereinzelt über die Grenze, der Luchs ist im Böhmerwald und im Nationalpark Kalkalpen wieder daheim. Ihr Problem: Sie jagen, ohne zu fragen. Illegale Abschüsse und mangelnde Akzeptanz machen ihnen das Leben schwer.
Plötzlich ist er da. Lautlos schwebt der Vogel über den Bergkamm. Mit einer Spannweite von 2,90 Metern ist der Bartgeier deutlich größer als der Steinadler, der sich kurz vorher gezeigt hat. „Lange, schmale Flügel, langer Schwanz, liegt ganz ruhig in der Luft. Sie können unglaublich rasant fliegen, aber auch so langsam, dass man das Gefühl hat, sie fallen im nächsten Moment runter“, erklärt der Wildbiologe Michael Knollseisen vom Nationalpark Hohe Tauern, während er durch den Feldstecher blickt. Manche Geier le- gen erstaunliche Flugrouten zurück: Inge, so heißt ein Tier, verbrachte einige Tage im Ausseerland, dann saß sie einen Tag lang am Innufer gegenüber von Schärding. Nun hält sie sich schon länger am Arlberg auf. Oder Jakob: „Er flog von der Westschweiz bis in die Niederlande, auf dem Rückweg war er in der Normandie, er flog sogar über das Schloss Versailles in die Schweiz und später wieder in die Hohen Tauern“, erzählt Knollseisen. Die Routen kann er genau bestimmen, weil die Geier einen Sender tragen und die GPS-Daten regelmäßig übermittelt werden. Bis zu 500 Kilometer schafft ein Bartgeier pro Tag. In Österreich leben nun wieder etwa 35 Bartgeier, seit 1986 durch ein Wiederansiedlungsprojekt im Nationalpark, an dem Salzburg, Kärnten und Tirol beteiligt sind. Während es in den Zuchtstationen an Nachwuchs fehlt, ist die Entwicklung in freier Wildbahn mit 23 Brutpaaren und derzeit 15 Jungen erfreulich. Der Salzburger Landesjägermeister Josef Eder begrüßt das Projekt ausdrücklich. Es gebe eine sehr gute Zusammenarbeit. Das bestätigt Knollseisen: „99 Prozent aller Jäger würden jeden sofort verurteilen, der einen Bartgeier schießt. Viele sind begeistert und unterstützen uns mit der Meldung von Sichtungen.“
Doch nicht alles ist eitle Wonne. Seit Jahren findet man nicht nur Adler, sondern auch Bartgeier mit Bleivergiftung. Das Blei gelangt ins Blut durch den Verzehr von erschossenem Wild oder Innereien, die manche Jäger nach dem Ausweiden liegen lassen. Mitunter ist eine Entgiftung erfolgreich. Am 5. Mai wurde der Bartgeier Glocknerlady in Heiligenblut wieder ausgesetzt, nachdem man ihn monatelang aufpäppeln musste. Doch die meisten verenden: 2012 fand man Nicola, 21 Jahre alt, das Tier war bereits tot. Bei einer Untersuchung stieß man zudem in älteren Wunden auf verschiedene Schrotkörner. Auf den Geier wurde also mehrmals geschossen. „Es kann passieren, dass Geier Blei ab- bekommen, wenn ein Tier getroffen und nicht gefunden wird“, sagt Eder. „Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass es von unseren Geschossen stammt. Die Bartgeier sind ja nicht nur in Österreich unterwegs.“ Seit 2012 ist der Einsatz von Bleischrot gegen Wasservögel verboten. Während bleifrei getankt wird und Bleileitungen ausgetauscht werden, haben die Jäger das Verbot von Bleimunition bisher verhindert. „Bleigeschosse haben eine bessere Tötungskraft. Das Wild er- fährt dadurch am wenigsten Leid. Es gibt Versuche mit Stahlgeschossen, doch sie sind noch nicht so gut“, sagt Eder. Problematisch nicht nur für Greifvögel: Aufgrund der Bleibelastung sollte man nicht mehr als zehn Mal im Jahr Wildbret essen. Laut Umweltbundesamt werden in Österreich pro Jahr 600 Tonnen Blei verschossen, das auch in den Boden gelangt. Kupfergeschosse wären gute Alternativen, in Nationalparkrevieren in Kärnten ist man damit seit vier Jahren erfolgreich.
Die Wölfe kommen
Besonders skeptisch sind die Waidmänner bei den Raubtieren Wolf, Bär und Luchs. Wobei der Luchs noch die besseren Karten hat. 2011 wurden im Nationalpark Kalkalpen zwei Tiere ausgesetzt und nun gibt es Nachwuchs. Um aber eine Population aufzubauen, sind mehr Tiere nötig. In den Vogesen war man weniger halbherzig und setzte 20 Tiere aus, im Böhmerwald 17. Wichtig wäre, eine Verbindung zwischen den Luchsen im Böhmerwald und in den Alpen herzustellen, weil isolierte Populationen geringere Überlebenschancen hätten, betont Experte Thomas Engleder. Die größte Bedrohung ist die Zerschneidung der Landschaft durch Autobahnen, Industriegebiete und Städte sowie die illegale Jagd. „Man braucht eine wildökologische Landschaftsplanung mit Querungen und Korridoren. Das muss vom Land ver- ordnet werden und nicht nur empfohlen“, fordert Engleder. Bei rund 15 Tieren ist eine Sichtung sehr unwahrscheinlich, „wie ein Lottotreffer“ – auch für ihn, der sich seit 20 Jahren mit dem Luchs beschäftigt. Noch heute ist er berührt von einer Begegnung im Böhmerwald: „Ich dachte, es gibt einen Wildwechsel mit Reh. Deshalb bin ich stehen geblieben, doch dann sprang ein Luchs aus dem Wald, ein faszinierendes, schönes und geheimnisvolles Tier.“
Schwieriger ist es für Isegrim. Der Mensch duldete keinen Räuber, der ihm auf Augenhöhe begegnet und gefährlich werden konnte. Früher gab es nicht wenige Todesopfer durch Wolfsangriffe. Das Tier wurde wie kaum ein anderes systematisch gejagt und 1882 in Österreich ausgerottet. Nur zwischen drei und sieben Wölfe streifen durch Österreich. Sobald sie auf ein Weibchen treffen, könnte es mit einer Rudelbildung aber schnell gehen. Um sich darauf vorzubreiten, gibt es die Koordinierungsstelle für den Braunbären, Luchs und Wolf (KOST) – ein länderübergreifendes Gremium mit Wildbiologen, Jägern und Politikern. Da die Ausbreitung von Wölfen nicht konfliktfrei ablaufen wird, hat man im Dezember 2012 Empfehlungen ausgearbeitet. Der Wolf hat gern Wild auf der Speisekarte, aber ist auch Nutztieren nicht ab- geneigt. Der Mensch fällt nicht in sein Beuteschema. Die einzelnen Wölfe verhalten sich lieber still und leise, um nicht in einen Gewehrlauf blicken zu müssen. Ein Managementplan für den Bären wurde 2005 überarbeitet. Doch die Gefahr von Rissen sei beim Wolf deutlich größer als beim Bären, sagt Bärenanwalt Georg Rauer. Angesichts der Aufregung um „Problembären“ sind die Zahlen ernüchternd: Fünf bis sieben Tiere sind nur zeit- weise hier, vor allem in Kärnten. Die 30 Bären im Ötschergebiet sind seit 2011 aus- gestorben. Es gibt Gerüchte, aber kaum konkrete Beweise für illegale Abschüsse. Doch einiges kann man ausschließen, die Bären waren nicht krank, es gab kein Inzuchtproblem, sie sind nicht woanders aufgetaucht. Derzeit fehlt es am politischen Willen für einen neuen Anlauf.
„Um intakte Ökosystem zu haben, braucht man auch Raubtiere“, sagt Christian Pichler vom WWF. „Es braucht Zeit, dass wir mit diesen Tieren wieder leben lernen. Sie haben ein Recht wie Hirsch und Reh, hier zu sein. Wir können nicht bestimmen, wer da sein darf und wer nicht.“ Wir sitzen aber am längeren Ast, entscheidend ist, ob die Jäger akzeptieren, dass da ein Tier zurückkehren will und jagt, ohne zu fragen. Landesjägermeister Eder sagt vorsichtig: „Die gesamte Jägerschaft ist gegen eine Wiederansiedlung, aber wenn der Wolf kommt, ist er herzlich willkommen.“ Sein Lebensraum habe sich verändert, es gebe keinen Platz für Wolfsrudel. „Eine Wiederansiedlung tut niemandem etwas Gutes, weder dem Tier noch dem Menschen.“ Schließlich werde die Naturlandschaft intensiv für Tourismus genutzt, viele Wanderer seien unterwegs. Dem könnte man entgegenhalten, dass Österreich mit seiner Natur wirbt und Bemühungen um Artenschutz die Glaubwürdigkeit erhöht. Die Freilassung eines Bartgeiers etwa ziehe Hunderte Besucher und TV-Teams an, erzählt Knollseisen.
Auch in der Werbung für die Region Kalkalpen macht sich ein Luchs gut. Doch die Jäger und auch Bauern sehen vor allem ein Problem: „Der Wolf oder der Bär hat einen gedeckten Tisch auf den Almen“, führt Eder weiter aus. „Er rennt dann keinem Hirsch mehr nach. Man kann wieder miteinander leben, aber es muss genau beobachtet werden.“ Der Waidmann sorgt sich auch um das Wild, das mit Fuchs und Adler umgehen könne, aber nicht mehr an Bären und Wölfen gewöhnt sei. Die Umstellung würde Jahre dauern. Obwohl zum Beispiel das Wildschwein mittlerweile „zur Landplage“ in Niederösterreich geworden sei und man auch mit 30.000 Abschüssen pro Jahr der Lage nicht Herr werde, ist Eder vom Wolf im Ökosystem nicht überzeugt. „Gegen einen Keiler kann ein Wolf nichts ausrichten, da braucht man ein großes Rudel Wölfe, und dafür haben wir kaum Platz“, wiederholt er. Ein großes Problem ist die föderalistische Struktur beim Naturschutz. Die EU sieht den Bund als Ansprechpartner, der aber nicht zuständig ist und alles nur an die Länder delegiert. Es gebe starke Schutzgesetze, doch die Kraft der Regelungen zerrinne im föderalen System, meint Bärenanwalt Rauer. „Bei schwierigen Arten braucht es mehr als nur Gesetze. Wenn ein Abschuss passiert, muss das verfolgt und geahndet werden.“ Es gibt zwar Jagdaufsichtsorgane, Jäger, die eine Zusatzprüfung gemacht haben. „Es gibt genaue Abschusspläne, doch Papier ist geduldig“, sagt Rauer. Wenn alles überschaubar und klein ist, jeder jeden kennt, tut sich so mancher Verantwortliche schwer durchzugreifen. Da in Österreich die Reviere gepachtet werden, glaubten viele, „was ich dort mache, geht niemanden was an und alles hat nach meiner Pfeife zu tanzen“. Jäger halten quasi wie Bauern im Wald Tiere und wollen sie schießen, dabei stören Beutegreifer. Knollseisen, selbst Jäger: „Manche Jäger sind nicht fähig zu sagen, wir gehen auf die Jagd, weil wir gern draußen sind, weil wir gern ein Wild erlegen wie seit Jahrtausenden. Manche jagen, weil es ein Machtgefühl ist, in einem zivilisierten Land mit einem Gewehr herumlaufen und Tiere erschießen zu dürfen. Man hat Macht über Leben und Tod. Und es geht um Konkurrenz, wer schießt den größten Hirsch, die größte Gams, um dann irgendwelche Knochen an die Wand zu hängen.“ Dass nicht alle applaudieren, wenn Bär und Wolf wieder heimisch werden, ist klar. Entschädigungen sind unterschiedlich geregelt, Rauer sagt: „Aus Sicht der Betroffenen ist es eine unsichere Angelegenheit.“ Knollseisen fordert mehr Mut von der Politik. „Politiker betonen, dass sie den Wolf hier nicht wollen, egal was die EU oder sonst jemand will. Aber hier geht es nicht um Wollen oder Nichtwollen, die Wölfe kommen einfach.“
Räuber reparieren das Ökosystem
Eindrucksvolles Beispiel aus dem Yellowstone Park – Wie andere Länder mit Wildtieren umgehen – Hunde und Esel gegen Beutegreifer.
„In Österreich schaut man nicht gern über den Tellerrand“, sagt der Wildbiologe Michael Knollseisen. Dabei zeigt ein Blick in Nachbarländer, dass der Bestand an Wildtieren deutlich höher sein und man Populationen nachhaltig stabilisieren kann. In Slowenien gibt es laut WWF 450 Bären, in Italien etwa 36. Verbreiteter ist der Wolf. „In den Westalpen von Genua bis zur Schweiz gehen wir von 500 Wölfen aus, etwa 60, 70 Rudel“, berichtet Knollseisen. Gut eingelebt haben sich zwölf Wolfsrudel in der Lausitz in Deutschland. Sie sind aus Polen eingewandert, wo es etwa 600 Tiere geben soll. Auch in Italien lebt Isegrim gut, 700 Stück sollen am Apennin sowie im Piemont unterwegs sein. Jäger behaupten, dass es für Bär & Co. nicht genug Platz in Österreich gebe. Der Biologe Kurt Kotrschal sieht das anders: „Der Lebensraum ist da.“ Zudem tut ein Beutegreifer dem gesamten System gut. Ein Beispiel dafür nennt Christian Pichler vom WWF: Wildfraß verhinderte im Yellowstone Nationalpark, dass Pappeln und Weiden an den Flüssen richtig wuchsen. Als 1995 Wölfe wieder angesiedelt wurden, übersiedelte das Wild zum Äsen in die weite Landschaft, um die Wölfe besser sehen zu können. Der Biber kehrte wieder zurück, durch den Schatten, den die Bäume spendeten, sank die Wassertemperatur und Fischarten, die verschwunden schienen, tauchten wieder auf. Der Wildbestand sei in Wolfsgebieten gesünder, die Trophäen seien größer, sagt Knollseisen. Er kann sich an aufgeregte Zeitungsberichte über die Wölfe in den Westalpen erinnern, Fotos von blutigen, gerissenen Schafen inklusive. „Zehn Jahre lang gab es Trubel, Schreierei, heute kümmern die Wölfe keinen Menschen mehr.“ Wichtig sei es, die Bevölkerung richtig aufzuklären und Entschädigungsmodelle für Bauern sowie Herdenschutzprogramme zu starten.
Ein Vorbild ist die Schweiz, wo man bereits seit 1999 Erfahrungen damit sammelt. So werden unter anderem rund 200 Hunde der italienischen Rasse Maremmano-Abruzzese zum Schutz der Schafherden eingesetzt. Auch Esel sind zu Diensten, sie sind soziale Tiere, die sich an andere Tiergattungen binden, wenn keine Artgenossen vorhanden sind – in dem Fall an Schafe. Wenn Gefahr droht, weisen sie wildernde Hunde, Wölfe und Bären vehement mit lautem Geschrei ab, zeigen Zähne und attackieren sie mit Hufschlägen. Auch setzt man Hirten samt Hunden ein und schützt Herden durch Zäune. Kommt es trotzdem zu einem Übergriff, greifen Entschädigungen. Umstrukturierungen waren freilich nötig. Einzelne Almen, die zu nahe am Wald und damit an der Gefahrenquelle lagen, wurden aufgegeben. Oft hält man die Tiere jetzt nur untertags auf der Alm und sperrt sie nachts wieder in den Stall. „Das ist aufwendiger und verursacht Kosten, aber man muss alles in Relation setzen. Viele gehen mit ihren Schafen nicht gut um. Wenn aber eines gerissen wird, sind alle im Aufruhr“, sagt Knollseisen. Von Vorteil ist auch ein Naturschutz, der zentral kontrolliert wird. In Italien gibt es kein Reviersystem wie in Österreich. Ein toter Hirsch mit schönem Geweih gehört dem Staat und nicht dem Revierbesitzer. So können Tiere nicht einfach unauffällig entsorgt werden. Im Unterschied zu Österreich, wo fast das ganze Jahr über gejagt werden darf, ist die Jagdzeit in der Schweiz auf drei Wochen begrenzt. In der übrigen Zeit sind nur staatliche Wildhüter draußen unterwegs. Auch in Italien und Frankreich versehen behördliche Aufseher Dienst, die unabhängig und flächendeckend agieren können und überall Zugang haben.