Die Integrationslüge

Es ist wirklich lange genug geredet und geschrieben worden: Über kulturelle Unterschiede und Religion, über Migranten, die sich nicht integrieren würden. Es ist nun höchste Zeit über Chancen im Bildungsbereich und am Arbeitsmarkt für Migranten zu reden. Über Diskriminierung, Gesundheit, Wohnsituation, Einkommen. 

Text: Eva Maria Bachinger

Publiziert in Tiroler Tageszeitung, März 2012

„Integration durch Leistung“ heißt derzeit die Devise von Integrationsstaatssekretär Sebastian Kurz. Wer sich anstrengt, kommt weiter, unabhängig von der Herkunft - der amerikanische Traum auf österreichisch. Vorzeige-Migranten gehen mit dem Staatssekretär on tour um positive Beispiele abzugeben. Das ist sicher ein richtiger Schritt: Der Ton in der Debatte hat sich durch Kurz etwas verbessert. Doch auch wenn man es sich wie ein Mantra lange genug vorsagt, wird es nicht wahrer. Österreich löst bisher das Versprechen nicht ein: Denn viele Migranten strengen sich sehr an und leisten viel, aber der Aufstieg bleibt ihnen verwehrt. Keiner will wahrhaben, dass es schon länger eine Zuwanderung von qualifizierten Fachkräften gibt. Diese Ignoranz hilft vor allem dem konstant großen Niedriglohnbereich: Denn nur noch wenige Österreicher wollen sich um ein paar Euro die Stunde die Finger schmutzig machen. Stattdessen schuften ein Drittel der beschäftigten Migranten unter ihrem Ausbildungsniveau. Das ist für den Einzelnen frustrierend, volkswirtschaftlich ist es fatal. Zu viel Potential bleibt ungenützt.  

„Deutsch als Schlüssel zur Integration“, heißt es. Wenn es so einfach wäre, wieso sehen dann Jugendliche, die hier aufgewachsen sind und deutsch sprechen, keine Zukunftsperspektive für sich? 17.000 Jugendliche gehen in keine Schule, machen keine Lehre und haben keinen Job. Es sind nicht nur Sprachkenntnisse nötig, um Fuß zu fassen, sondern auch Berufsausbildungen, Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten. Bei der Forderung nach Deutschkenntnissen messen wir zudem mit zweierlei Maß: Denn wieso stört es uns nicht, wenn eine erfolgreiche Opernsängerin zwar die österreichische Staatsbürgerschaft hat – weil sie so viel leistet! – und kaum Deutsch spricht? Bei anderen Migranten, die auch viel leisten, stoßen wir uns daran, wenn sie in ihrer Muttersprache reden und ihr Deutsch nicht perfekt ist. Letztlich ist also Geld immer noch das wichtigste Merkmal zur Unterscheidung von Menschen. 

Zarema S. erzählt, dass sie gute Erfahrungen mit Österreichern hätte, nur in der Straßenbahn werde sie öfters angepöbelt, wenn die Mutter mit ihren Kindern nicht nur deutsch, sondern auch tschetschenisch spricht. „Deutsch bitte, wir sind hier in Österreich!“, wurde ihr von anderen Fahrgästen öfters ausgerichtet. Sie können sich an den politischen Eliten orientieren, die nicht müde werden, zu betonen, dass überall und immer Deutsch gesprochen werden soll. Dabei wissen alle Politiker, Beamte und Experten nur zu genau, dass die Anbindung an die Muttersprache eine wichtige Basis ist, um eine Fremdsprache gut erlernen zu können. Mehrsprachigkeit ist kein Nachteil, sondern ein großer Vorteil in einer globalisierten Welt! Doch aussprechen will es keiner der politisch Verantwortlichen. Aus politischem Kalkül.

  

Ein anderes Beispiel: Eine ältere Frau lebt seit Jahrzehnten in einem alten Mietshaus. In kurzer Zeit veränderte sich vieles: Die meisten Alt-Österreicher starben, junge, große Familien aus der Türkei zogen ein. Die Frau entwickelte eine feindselige Haltung. Die Nachbarn seien zu laut, unfreundlich, und überhaupt gehören sie nicht hier her. Es hilft wenig, der Frau zu sagen, sie müsse doch weltoffen sein und sich für andere Kulturen interessieren. Ihr Problem ist nicht gelöst, wenn man sich über ihre Fremdenfeindlichkeit empört. Denn dabei geht man darüber hinweg, dass es legitim ist, irritiert zu sein, wenn sich die heimatliche Umgebung so rasch verändert. Es lohnt sich genauer nachzufragen: Denn dann stellt sich heraus, dass es nicht nur um kulturelle Unterschiede geht, sondern um Einsamkeit und Unzufriedenheit. Die Frau bekommt nie Besuch und bei den Nachbarn gehen die Verwandten ein und aus. Eingeladen wird sie auch nicht, denn für ihre Nachbarn ist es wiederum befremdlich, dass in Österreich eine ältere Frau so allein ist und sich niemand von der Familie um sie kümmert. 

Immer wieder ist von Parallelgesellschaften die Rede, wo sich Ehrenmorde, Zwangsheirat und Genitalverstümmelung abspielen würden. Diese Phänomene haben ihre kulturelle Basis und zahlreiche Bücher wie jene von Necla Kelek oder Seyran Ates beschreiben die irritierenden Wertvorstellungen in vielen Familien. Klar ist: Ein Ehrenmord ist ein Mord, eine Genitalverstümmelung eine schwere Körperverletzung. Das sind Handlungen, die nicht aus falscher Toleranz für „kulturelle Sitten“ beschönigt werden sollen, sondern hart bestraft gehören. Aber alles mit Kultur und Religion zu erklären, ist zu kurzsichtig.

Es leben auch viele Österreicher in Parallelwelten. Denn Kultur ist nie homogen. Hat eine junge Frau in Innsbruck, die studiert und einen guten Job hat nicht mehr gemein mit einer gleichaltrigen und ebenso gebildeten Frau mit türkischem Migrationshintergrund, als mit einer Bergbäuerin auf einer Hochalm, die einen Dialekt spricht, den man nur auf ihrer Alm versteht und die völlig andere Werte lebt? Beide sind Österreicherinnen, aber ihre Lebenswelten existieren parallel und haben wenig miteinander zu tun. 

Welcher Religionsgemeinschaft man angehört, ist doch nur ein Faktor, Kultur ist lediglich ein Aspekt der Identität. Oder besteht die Identität der meisten Österreicher auch nur aus dem Bekenntnis zum Christentum? Empfinden wir uns nur als Österreicher? Sind wir nicht auch Handwerker, Schüler, Arbeitnehmer, Bruder, Tochter, Unternehmerin, Hobby-Bergsteiger? 

Es lohnt sich also beim Thema Integration genauer hinzuschauen und Fragen zu stellen. Und aufhören zu lügen. Denn verlogen ist es, wenn wichtige Aspekte in der Integrationsdebatte verschwiegen werden, aus politischem Kalkül oder aus Blauäugigkeit. Es muss um eine möglichst vollständige Wirklichkeit gehen.

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