Der Lastenträger
„In fünf Jahrzehnten bin ich immer wieder diese zehn Kilometer hinauf zur Hütte und wieder hinunter, jedes Mal 500 Höhenmeter, zu Fuß, im Winter mit den Skiern. Ich habe mir einmal ausgerechnet, dass ich damit drei Mal um die Erde gegangen bin.“
Text: Eva Maria Bachinger, Foto: Florian Bloch, Galtür 2011
Publizierte in Die Furche
Was man heute nur noch vom Himalaya kennt, gab es auch hierzulande: Lastenträger. Der Tiroler Franz Lorenz, langjähriger Hüttenwirt und Bergführer, war bis Mitte der Sechzigerjahre auch Lastenträger für Berghütten im Alpenraum. Als es noch keine Lieferungen mittels Seilbahn und Hubschrauber gab, schleppte er bis zu 60 Kilogramm in lichte Höhen. Doch er kennt auch andere Lasten: Beim Lawinenunglück 1999 in Galtür verlor er Ehefrau und Schwiegertochter.
Die Lawine kam in der Abenddämmerung. „Ein Rauschen, ein dumpfes Geräusch, danach Stille. Es ist dunkel geworden. Dann hörten wir die Sirenen wie früher beim Fliegeralarm“, erzählt Franz Lorenz. Die Dorfbewohner liefen zu den verschütteten Häusern, mit bloßen Händen und Schaufeln begannen sie zu graben. Das Dorf war auf sich allein gestellt, weil die Hilfsmannschaften wegen des schlechten Wetters vorerst nicht in den Ort vordringen konnten. Auch Franz Lorenz schaufelte verzweifelt die Schneemassen weg. Wo einst das Haus seines Sohnes Gottlieb stand, türmte sich in der Dunkelheit meterhoch Schnee. Die Helfer gruben sich vom zerstörten Teil im Obergeschoss nach unten. „Schließlich fanden wir in der Küche im Erdgeschoss unsere zwei Frauen“, sagt Lorenz und schweigt. Die Toten waren seine Ehefrau Hildegard und seine Schwiegertochter Edith. Lorenz’ Ehefrau war bei ihr gewesen, damit die Schwangere bei der schwierigen Wetterlage nicht allein sein musste.
Im Februar 1999 hatte es in Galtür im Tiroler Paznauntal seit Tagen unaufhörlich geschneit. „Drei Mal kamen jeweils mehr als zwei Meter Schnee hinzu“, erzählt Lorenz. Über dem 800-Seelen-Dorf braute sich auf 2700 Metern das Unheil zusammen: Die Schneewechten am Berg wurden immer größer und schwerer, bis sie sich lösten und am 23. Februar 1999 um 16 Uhr mit voller Wucht ins Tal donnerten. Es löst sich eine Träne, als er davon erzählt. Aber Franz Lorenz wischt sie schnell weg. „Wenn wir Alten feig sind, wie sollen denn dann die Jungen zurechtkommen? Man darf nicht weich sein. Das Leben ist halt so, von einem verlangt es viel, vom anderen weniger“, sagt der heute 85-Jährige. Auf dem kleinen Friedhof bei der alten Dorfkirche steht er am Grab von Frau und Schwiegertochter. Sechs einheimische Tote hatte das Dorf zu beklagen, alle waren Frauen. Links vom Grab von Hildegard und Edith Lorenz wurde eine Gedenkstätte für die 25 getöteten Urlauber errichtet. An den eingravierten Nachnamen sieht man, dass zum Teil ganze Familien ausgelöscht wurden.
Die Lawinenkatastrophe mit 31 Toten in Galtür ist auch zwölf Jahre danach im Dorf allgegenwärtig. Nicht zu übersehen sind die hohen, dicken Mauern, die errichtet wurden und vor weiteren Lawinen schützen sollen. Fast 400 Meter lang ist der Schutzwall, 80 Tonnen Beton sind verarbeitet worden. Mitten im Ort steht das Alpinarium, ein Museum zum Thema. Lorenz schaut hinauf: Ein Hubschrauber fliegt über das Dorf hinweg in Richtung Jamtalhütte. „Wenn ich das höre, ist das immer unangenehm für mich.“
Sobald sich das Wetter nach dem Unglück wieder gebessert hatte, machte sich Lorenz begleitet von einem Diakon mit dem Helikopter auf zur Jamtalhütte, wo sein Sohn Gottlieb eingeschneit ausharrte und noch nichts vom Tod seiner Mutter und seiner jungen Ehefrau mit dem ungeborenen Kind wusste. Über dem Weg, den er so gut kennt wie seine Westentasche, den er unzählige Male zu jeder Jahreszeit gegangen war, sei er so schwer beladen wie noch nie hinaufgeflogen, erzählt er. Die Todesnachricht zu überbringen war schwerer als all die Lasten, die er zuvor hinaufgetragen hatte: Franz Lorenz war bis in die Sechzigerjahre einer der letzten Lastenträger im Alpenraum, als Hütten noch nicht mit Seil- bahnen, Helikoptern und Geländefahrzeugen versorgt wurden. Bis zu 60 Kilogramm an Lebensmitteln und anderen Gütern hat er geschleppt, im Sommer auch mithilfe von Pferden. Gemeinsam mit seiner Frau, mit der er 43 Jahre verheiratet war, hat er die Hütte bewirtschaftet und als Bergführer vor allem in Tirol gearbeitet. „In fünf Jahrzehnten bin ich immer wieder diese zehn Kilometer hinauf zur Hütte und wieder hinunter, jedes Mal 500 Höhenmeter, zu Fuß, im Winter mit den Skiern. Ich habe mir einmal ausgerechnet, dass ich damit drei Mal um die Erde gegangen bin.“
Wie für viele Bergsteiger ist das Gebirge auch für ihn eine wichtige Kraftquelle: „Wenn ich gehe und die Natur um mich aufnehmen kann, werde ich ruhiger, die Gedanken werden klarer, man kommt zum Wesentlichen. Ich habe nicht studiert, aber ich weiß, dass schon die alten Griechen beim Denken gegangen sind, weil sie gemerkt haben, dass sich im Geist einiges rührt, wenn sie gehen. Auch wenn ich eine Bergtour schon zwanzig Mal gemacht habe, es ist immer anders. Wenn ich nach Hause komme, bin ich immer unglaublich dankbar, dass ich unterwegs sein konnte.“ Als Bergbauernbuben mit sechs Geschwistern war ihm eine höhere Ausbildung nicht möglich, doch heute würde er gern Philosophie studieren. „Ich glaube aber nicht, dass die großen Denker gescheiter sind als ich durch das Gehen“, sagt er lachend. Der rüstige Tiroler wandert immer noch viel. „Hier ein Eisen, dort ein Schrauben, aber sonst geht es mir gut. Es ist eine Gnade, so alt zu werden, bei klarem Verstand und ohne jemanden zur Last zu fallen. Aber das Alter ist eine Lehre, die letzte und nicht die leichteste.“
Mehrmals in der Woche führt er die Hausgäste durch die Berge der Umgebung. Seine Frau Hildegard hat in Galtür im Haus der Familie die Basis für das heutige Alpenhotel Tirol geschaffen. Nun ist es mit vier Sternen ausgezeichnet und wird von Sohn Peter als Tiroler Wanderhotel geführt. „Durch die Wanderungen bekommen wir einen ganz anderen Bezug zum Gast und der Gast zu uns und zur Region ebenso.“ Der Wintertourist habe sich in den letzten Jahren stark zum Eventtouristen gewandelt. „Auch im Sommer suchen die Menschen Erlebnisse, aber sie müssen sie sich erst verdienen. Der Gast braucht eine andere Motivation. Doch wenn er vier Wanderungen in einer Woche macht, ist er am Ende stärker und hat mehr erlebt.“ Lorenz zeigt den Urlaubern auch viele Pflanzen, er erklärt ihnen die Vogelstimmen. „Der Gast sieht vielleicht dann auch mehr, als wenn er allein unterwegs ist. Wer kennt heute noch eine Orchidee, eine Braunelle, die Alpenblumen insgesamt? Wenn man ihm diese Blume zum Riechen unter die Nase hält, fliegt er fast um, weil sie besser riechen als der beste Flieder.“
Neben den Bergen ist für Lorenz die nächste Generation eine Freude. „Meine fünf Enkelkinder sind die Zukunft, denn ich habe meine Zukunft schon hinter mir“, sagt er und sein ernster Blick hellt auf. Einer seiner Enkel habe ihn vor kurzem wieder sehr zum Lachen gebracht: „Neni, (Opa, Anm.), wenn du dich bückst, sieht man schon, dass du saualt bist.“ Die Kinder helfen ihm versöhnlich zu sein. Die Frage nach Schuldigen beim Lawinenunglück lehnt er ab: „Es wurde nicht zu spät gewarnt. Die meisten Toten gab es deshalb, weil viele nicht in den Häusern blieben. Eine Lawine ist eine Naturgewalt, die wir letztlich nicht in der Hand haben. Ein Naturgeschehen läuft einfach ab.“
Franz Lorenz
wurde als eines von sieben Kindern am 1. Jänner 1926 in Galtür, Tirol, geboren. Seine Eltern waren Bergbauern. Lorenz besuchte eine Handelsschule und musste als Soldat
im Zweiten Weltkrieg einrücken. Ab 1955 bewirtschaftete er wie bereits sein Vater und sein Großvater die Jamtalhütte auf 2165 Metern Seehöhe, die älteste Hütte im Tiroler Silvretta Gebiet (erbaut 1882). Seine Frau Hildegard und seine Schwiegertochter Edith kamen beim Lawinenunglück von Galtür 1999 ums Leben. Der ausgebildete Bergführer wandert heute noch mehrmals in der Woche mit Gästen des Alpenhotel Tirol, das sein Sohn Peter führt. Franz Lorenz hat vier Kinder und fünf Enkelkinder. Er starb 2014.